„Was ich heute vor 25 Jahren gemacht habe? Vermutlich lag ich auf der Couch und habe fern gesehen. Bei uns war ja nicht los.“ Wie sich dieser Zustand in den folgenden Tagen des Jahres 1989 änderte, berichtete Heinrich Gehring aus Dörfles bei Kronach während eines CHW-Vortrags am Jahrestag des Mauerfalls. Detailliert zeichnete er nicht nur Ursachen und Folgen der neuen Reiseregelung in der DDR nach, sondern erinnerte die Zuhörer an eine fast vergessene Tatsache: Die Grenzöffnungen zwischen Franken und Sachsen/Thüringen, an denen Gehring maßgeblich beteiligt war, liefen alles andere als koordiniert ab.
Über rund 20 interessierte Zuhörer im Hotel „Alte Post“ freute sich CHW-Bezirksgruppenleiter Christian Klose, zumal es sich beim Referenten um einen „Zeitzeugen und Macher“ der Öffnung der Grenzübergänge handle: Heinrich Gehring war bei der Straßenbauverwaltung (an den Straßenbauämtern Kronach und Schweinfurt sowie als Sachgebietsleiter für Straßen- und Brückenbau an der Regierung von Oberfranken) tätig und zur Zeit des Mauerfalls bei der Regierung für Grenzübergänge zuständig.
Zum Verständnis der Ereignisse gab der 70-Jährige einen Überblick über die Entwicklung der DDR, von der „Gründung“ 1949 bis hin zu den Bürgerprotesten 50 Jahre später und der folgenreichen Äußerung des SED-Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski am 9. November zur neuen Reiseregelung („Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich“). „Damit wurde unbeabsichtigt die sofortige Öffnung der bestehenden Grenzübergänge in Berlin und die Herstellung neuer Grenzübergangspunkte zur Bundesrepublik ausgelöst“, erinnerte sich Heinrich Gehring.
Der Tag danach sei für ihn und seine Kollegen ein gewöhnlicher Arbeitstag gewesen. Niemand habe unmittelbare Folgen der Grenzöffnung in Berlin erwartet. Lediglich Überlegungen wegen des zu erwartenden Reiseverkehrs aus dem Osten seien angestellt worden, wofür die zwei Bahn- und drei Straßenübergänge in den an die DDR grenzenden oberfränkischen Landkreisen Coburg, Kronach und Hof sowie die Autobahn und zwei Bundesstraßen dienen sollten.
Verspätung, weil Bürgermeister tapeziert
Es dauerte bis Sonntag, 12. November, bis Gehring und sein Team unverhofft in Aktion treten mussten. Um 5.25 Uhr morgens ging ein Anruf der Grenzpolizei bei der Straßenmeisterei Hof ein, dass in Ullitz bei Hof ein zusätzlicher Übergang sofort geöffnet werden solle: Der Schlagbaum wird beseitigt, ein Bauunternehmen liefert 20 Tonnen Mineralbeton, unter Gehrings Aufsicht arbeiten Mitarbeiter von Straßenmeisterei und DDR-Grenztruppen Hand in Hand beiderseits der Grenze, um die Straße zu errichten. Und um 9.34 Uhr rollte der erste „Trabi“ nach Franken.
In den folgenden Tagen hatte Gehring mehrere Grenzöffnungen zu bewältigen, darunter Falkenstein/Probstzella (am 13. November), Nordhalben/Rodacherbrunn (18. November). Für weitere Vorhaben wurde ein Bauzeitenplan erstellt, der mit Rodung auf DDR-Gebiet (samstags/sonntags) begann und nach Erdarbeiten und Straßenbau mit der Verkehrsfreigabe am Freitag endete.
Für Heiterkeit sorgten viele amüsante Episoden: Vom Stockheimer Bürgermeister beispielsweise, der statt eines Vorgesprächs zu Hause tapezierte („Sonst bekomme ich Ärger mit meiner Frau“), was eine Verzögerung der Grenzöffnung zwischen Burggrub und Neuhaus-Schierschnitz verursachte. Oder vom Mitarbeiter der Straßenmeisterei, der die Gelegenheit nutzte, um sich einen Christbaum aus dem DDR-Wald zu klauen. Und, dass am Übergang Falkenstein/Probstzella bis März 1990 1 004 254 Einreisende mit 302 559 Autos gezählt wurden.
Straßenbau im früheren Todesstreifen
Gehring schilderte, dass ihm und seinen Mitarbeitern ihre orangfarbenen Warnwesten als Visum-Ersatz dienten – und, dass sie dennoch ein unbehagliches Gefühl beschlich, als sie im früheren Todesstreifen eine Straße bauten. Oder wie sie die errichtete Fahrbahn zwischen Tettau und Spechtsbrunn bis zum Nachmittag mit einem Lastwagen blockierten, damit die Öffnung im Beisein der Bürger erfolgen konnte. Und die Geschichte von dem DDR-Major, der vom damaligen Kronacher Landrat Werner Schnappauf ein „Freistaat Bayern“-Schild als Geschenk erhielt, und danach für mehrere Tage verschwunden war, als er dieses auf thüringischem Gebiet aufgestellt hatte.
Apropos Politiker: Es sei bemerkenswert, dass lediglich Lokalpolitiker bei den Grenzöffnungen waren, so Heinrich Gehring. Aus München, geschweige denn aus den Hauptstädten Bonn und Ost-Berlin habe sich niemand blicken lassen: „Die Öffnungen waren eine rein fränkische und keine bayerische Sache.“ Besonders deutlich wurde, dass die Grenzöffnungen ausschließlich auf lokale Initiative geschahen, weil Orte oder Regionen wieder zusammenwachsen wollten, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg familiär, wirtschaftlich oder kirchlich verbunden waren. Und dass sie ungeplant verliefen: „Wir hatten den Eindruck, dass man den Ausgang der Ereignisse abwarten wollte und dann überfordert war. Es gab niemanden, der das koordiniert hat. Im Grunde hat jeder gemacht, was er wollte“, so Gehring.
Wie ein Beleg für das geringe Interesse aus München – lediglich erklärbar durch die fehlende Zuständigkeit von Bundesländern für Außenbeziehung – klang die Nachbetrachtung seines Lohns für den Aufwand. Erst nach einer siebenmonatigen Prüfung sei ihm das Abfeiern der angefallenen Überstunden erlaubt worden, mit dem Hinweis, dass die Straßenbauer „durch rationellere Arbeitsweisen die Dauer der Tätigkeiten beeinflussen“ hätten können. „Wenn wir im Juli gewusst hätten, dass die Grenzen geöffnet werden, hätten wir uns drauf eingerichtet“, kommentierte Gehring süffisant.
„Die Öffnungen waren eine rein fränkische und keine bayerische Sache ... Es gab niemanden, der das koordiniert hat. Im Grunde hat jeder gemacht, was er wollte.“
Heinrich Gehring, früherer Sachgebietsleiter der Regierung
Dabei ist es ihm und den „gerade einmal zwei Handvoll Personen“, die an den Grenzöffnungen von Franken aus maßgeblich beteiligt waren, sowie den „tüchtigen oberfränkischen Baufirmen“ zu verdanken, dass der Ablauf größtenteils reibungslos vonstatten ging. Seine Erinnerungen und Protokolle will Heinrich Gehring in einem Buch verarbeiten.