Aus seiner Kindheit und Jugend im alten Lichtenfels erzählt Erich Barnickel, geboren 1931. Teil vier der Serie über seine Lebenserinnerungen, aufgezeichnet von seinem Sohn. Sie beschäftigt sich mit den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die von Entbehrungen und dem Organisieren von Lebensmitteln bestimmt war:
Nach dem Krieg, so im Jahr 1945, standen zwei große Kirschbäume in der Langheimer Straße beim Schuster Doppel. Da in dieser Zeit noch Ausgangssperre nach Einbruch der Dunkelheit herrschte, patroullierten in der Langheimer Straße – wie auch anderswo – zwei „Amis“. Um an die Kirschen zu kommen, wurden ein paar Latten aus dem Holzzaun um das Grundstück entfernt. Die Bäume waren nicht all zu hoch und wiesen einen dichten Bewuchs auf. Es war also nicht schwer, im Kirschbaum unbemerkt zu bleiben, wenn unten die Wachen vorbeigingen. Wenn man also nicht zu laut war, konnte eine Schar von meist mindestens fünf Jungs aus der Sandstraße nach einer ausgiebigen Kirschmahlzeit wieder nach Hause verschwinden. Der große Vorteil bei diesen Aktionen: Wegen der Ausgangssperre war keine „Überraschung“ seitens des Baumbesitzers zu befürchten.
Beim Erdbeerernten erwischt
Das Flussbad war in dieser Zeit für die einheimische Bevölkerung gesperrt und nur den „Amis“ vorbehalten. Aus Langeweile fingen wir das Angeln am Mühlbach an. Mangels passender Ausrüstung fingen wir aber zuerst keine Fische. Aber man war ja flexibel: In der Nähe des Wasserturmes befanden sich Gärten von Eisenbahnern, in welchen unter anderem Erdbeeren angebaut wurden.

Eines Tages erschien der Besitzer des Gartens überraschend auf dem Feld. Ich wurde plötzlich von hinten an der Schulter gepackt. Da ich zuerst dachte, es sei ein anderer Erdbeerdieb, schrie ich nur: „Du blöder Hund“. Nach Erfassung der tatsächlichen Situation ergriffen alle die Flucht. Zur großen Überraschung erfolgte aber nie eine Anzeige oder so etwas. Nach unserem Umzug in die „Neubäu“ im folgenden Jahr wurde ich aber vom Gartenbesitzer wiedererkannt. Wie gesagt: In der „Neubäu“ wohnten damals viele Eisenbahner-Familien. Außer der Feststellung „Des worst also Du“ hatte auch diese späte Wiedererkennung keine Folgen.
Die Lastwagen der „Amis“
Da das Flussbad gesperrt war, suchten wir uns im Sommer anderweitige Möglichkeiten zum Zeitvertreib. Über das Wehr gelangten wir auf die Schneyer Seite des Mains. Hier hatten die „Amis“ ihre Lastwagen abgestellt.

Diese waren immer eine Quelle für Süßigkeiten oder sonstige Nahrungsmittel. Einmal hatten wir Bierfässer auf einem Lastwagen entdeckt. Jemandem gelang es auch, einen Teil der Flüssigkeit abzulassen und für den allgemeinen Konsum zugänglich zu machen. Da es sich unglücklicherweise um Starkbier handelte, hatten wir alle bald ziemlich „angestochen“ und waren ordentlich „beieinander“. Rechtliche Folgen hatten unsere Raubzüge nie. Nur bei der Bieraktion hatte ich die mir zugewiesenen häuslichen Aufgaben wie Hasenstall-Ausmisten vergessen. Als Folge gab es von meinem Vater eine „gehörige Abreibung“. Alles in Allem hatten wir bei unseren Aktionen schon großes Glück gehabt, dann man hörte auch von drakonischen Strafen, insbesondere bei Diebstählen oder anderen Vergehen bei der „Besatzungsmacht“.
Schwarzschlachten im Wald
Zuweilen wurde im Wald in Richtung Vierzehnheiligen „schwarz“ geschlachtet. Es handelte sich meist um Schweine oder Spanferkel, aber auch um kleine Kälber. Diese wurden von Bauern eingetauscht und im Wald verarbeitet. Wir Kinder sahen meist nur noch, wie „Schlinga“ von den Bäumen hingen. Es handelte sich nämlich durchaus um eine nicht ungefährliche, da mit Strafe belegte Tätigkeit. Mehrere Frauen aus der „Neubäu“ saßen deshalb auch vorübergehend im Gefängnis.
Um es einmal deutlich zu sagen: Manche der hier geschilderten Streiche würden heute als kriminell gewertet werden. Zur damaligen Zeit und im damaligen Umfeld mit Lebensmittelknappheit und allgemeiner Not war dies aber durchaus üblich.

Eine Tante von mir hieß mit Nachnamen Schilling und wurde in der Verwandtschaft meist als „die Schillinga“ bezeichnet. Einmal durfte ich sie nach Schwärzdorf (bei Mitwitz) zu Verwandten begleiten. Es wurde dort eine Schlachtschüssel veranstaltet und wir arbeiteten beim Aufschneiden von Spind mit. Nachdem wir dort auch übernachtet hatten, fuhren wir am kommenden Tag wieder mit der Bahn heimwärts. Unglücklicherweise begegneten wir in Ebersdorf einem Lehrer von mir. Ich hatte mich bei ihm für den vergangenen Tag krank gemeldet.
Schnapsbrennen in der Küche
Die Notlüge hatte aber keine Folgen, Schließlich diente sie einer ausreichenden Nahrungsaufnahme in Form von frischem Spind.
Als wir nach dem Krieg (1945 bis 1958) in der „Neubäu“ wohnten, baute ein Arbeitskollege meines Vaters einen Schnapskessel. Das Gerät zum Brennen bestand aus einem etwas über einen Meter hohen Kessel. Ein Probebrand fand in der Küche des Kollegen statt. Als dieser erfolgreich war, fingen auch wir mit der Vergärung von Zuckerrüben an. Hierbei stand ein großer Glasballon (mindestens 50 Liter) in der Küche neben dem Holzherd. Die Hefe und die „Essenz“ wurde von einer Apotheke bezogen.
Die Vergärung funktionierte gut, hatte aber den Nachteil, dass sich ein fürchterlicher Gestank in der Wohnung und im ganzen Haus verbreitete. Nach Ende der Gärung erfolgte der Brand durch Erhitzen des Kessels über einer eingebauten Feuerstelle. Die ersten Tropfen wurden gesammelt und hatten eine Alkoholkonzentration von etwa 80 Prozent. In der Folge wurden die Schnäpse dann auf etwa 45 Prozent Alkohol eingestellt, damit sie genießbar waren.
Die Destillationsapparatur „wanderte“ mit der Zeit durch die einzelnen Wohnungen in der „Neubäu“, wobei der Brand meist in der Nacht stattfand – es wäre ja eigentlich anzumelden gewesen und es bestand eine Zollpflicht. Im Laufe der Zeit wurde die Produktpalette dann von Zuckerrüben über Kornschnaps bis hin zu diversen Obstsorten erweitert. Darüber hinaus wurden Hiffen und Schlehen verarbeitet.
Auch die Produktionsmenge wurde ausgedehnt, da auch in verschiedenen Wohnungen der Nachbarhäuser gebrannt wurde. Das ganze, gefährliche und illegale Gewerbe mit Gestank und Verunreinigungen in den Häusern kam erst nach der Währungsreform zum Erliegen, als Schnaps auch wieder offiziell günstiger erworben werden konnte.
Üblicherweise wurde der frisch gebrannte Schnaps noch verdünnt, so dass man schließlich auf einen Alkoholgehalt von unter 50 Prozent kam. Eines Tages war mein Großvater auf Besuch und machte sich über das Endprodukt als „dünnes Gesöff“ lustig. Hierauf gab mein Vater die Erlaubnis, den Schnaps unverdünnt zu verkosten.
Mein Großvater brach darauf zusammen, musste hingelegt und nach Hause gebracht werden. Später stellte sich heraus, dass er sich mit einem fast 90-prozentigen Schnaps-Vorlauf beinahe vergiftet hatte. Wir dachten, er würde sterben.
Es wurde auch Schnaps an die „Amis“ gegen Zigaretten abgegeben. Zum Schwarzhandel wurde auch Hiffen- und Schlehenwein hergestellt.