Einer dieser signalroten Ordner bewahrt auch den Fall jenes älteren Mannes. Bedächtig, fast kontrolliert erzählt Wappes in seinem Amtszimmer in Kissingens Spargasse von einem Fall, den Stammtische bestimmt leidenschaftlich diskutieren würden. Anschließend aber gingen alle mit dem guten Gefühl nach Hause, eine solche Frage nie entscheiden zu müssen.
Der Rentner, schon länger Betreuungsfall, kam kürzlich wegen Durchblutungsstörung ins Krankenhaus. Die Ärzte sahen nur eine Heilungs-Chance: Den rechten Arm zu amputieren. Das Problem: Der Patient verweigerte die Einwilligung, ohne die, juristisch gesehen, zunächst jede Operation eine Körperverletzung darstellt. Weil der Mann unter Betreuung stand, schalteten die Mediziner den zuständigen Richter am Amtsgericht Bad Kissingen ein.
Recht auf Krankheit
Wappes zieht die Brauen hoch, stützt die Arme auf die Tischplatte und faltet die Hände vor dem Mund. So, als wolle er ihn verschließen, bis juristischer Sachverstand und moralisches Gespür die Schicksalsfrage im Kopf durchgefochten haben. "Als Mensch muss ich natürlich Respekt vor der Entscheidung dieses Mannes haben", sagt er.
Und erst recht als Jurist: Das Betreuungsgesetz, seit 1992 in Kraft, hat die vormalige Vormundschaft fundamental umgestaltet, indem es nicht mehr den Willen des Betreuers, sondern den des Betreuten legitimieren soll. Dessen Entscheidungen werden nicht mehr nur berücksichtigt, sondern weitgehend anerkannt. Die Entmündigung ist faktisch abgeschafft.
Im Fall jener roten Akte auf Wappes' Schreibtisch, hilft es nicht viel, dass jeder Betreute seitdem das "Recht auf Krankheit" hat, er sich demnach selbst dann nicht behandeln lassen muss, wenn sich sein Zustand sonst verschlimmerte. Es sei denn, er wäre geistig nicht in der Lage, die Folgen zu beurteilen. Ob das jener alte Mann noch kann, entscheidet aber nicht irgendwer. Hier im Landkreis regelt diese Frage das Verdikt von Richter René Wappes.
Dazu macht der Jurist in der Regel Hausbesuche. "Die meiste Zeit hänge ich nicht über den Akten, sondern bin bei den Leuten draußen", sagt der 33-Jährige. Da bekomme er mehr mit von deren Gemütslage, Stimmung und Geisteszustand. "Sie sind schlicht unbefangener - und das wären sie nicht, wenn ich sie hierher ins Amtszimmer in die Spargasse vorlade", meint Wappes. Eminent wichtig für seinen Job sei seine effiziente Geschäftsstelle, die ihm hilft, die Flut all dieser ganz persönlichen Einzelfälle zu bewältigen. "Wenn man sich erstmal auskennt, bleibt man in aller Regel ziemlich lange Betreuungsrichter", sagt Wappes. Zumal sich Juristen um das schwierige und arbeitsintensive Referat wohl nicht gerade reißen dürften.
Schwierig bleibt das Urteil, auch wenn der Betreuungs-Richter sich durch ärztliche Gutachten sekundieren lassen kann: Denn die Verantwortlichkeit liegt letztlich bei ihm. Auf keines anderen Menschen Gewissen liegen die Folgen. Deswegen hat sich Wappes im Fall jenes älteren Mannes für die lebensrettende Amputation entschieden, auch wenn sie gegen dessen Willen erfolgt.
Um solche Befugnisse muss Wappes weiß Gott niemand beneiden: "Rechenschaft vor sich selbst legt man 24 Stunden am Tag ab - auch noch nach Dienstschluss und im Urlaub", sagt der Richter.