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SCHWEINFURT: Gesamtbuchkunstwerkskulptur: Andreas Schmidt über sein Projekt

SCHWEINFURT

Gesamtbuchkunstwerkskulptur: Andreas Schmidt über sein Projekt

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    Gesamtbuchkunstwerkskulptur: Andreas Schmidt über sein Projekt
    Gesamtbuchkunstwerkskulptur: Andreas Schmidt über sein Projekt

    Der Fotograf Andreas Schmidt interessiert sich für die Realität. Oder vielmehr für den Begriff, den wir uns von ihr machen. Wie wir uns darin bewegen, wie wir sie abbilden. Der aus Schweinfurt stammende Künstler, der in London lebt, arbeitet längst mehr am Computer als mit der klassischen Kamera. Nach zwei Fotobüchern über Las Vegas und den Finanzdistrikt von London (erschienen bei Hatje Cantz) und einer Ausstellung in der Schweinfurter Kunsthalle hat er vor kurzem ein aufwendiges Langzeitprojekt fertiggestellt: die Gesamtbuchkunstwerkskulptur – ein kreisrundes Regal, entworfen von Schmidt selbst, in dem 77 Bücher in quadratischem Format stehen, die der Künstler in den Jahren 2008 bis 2013 gestaltet hat. Vier Fächer sind frei geblieben. Die Bücher sind höchst unterschiedliche Kommentare zur Gegenwart, die eines gemeinsam haben: Eine Ausgangsidee wird nach dem seriellen Prinzip vertieft, verdichtet und nicht selten auch ironisch verfremdet. So hat Andreas Schmidt in Band eins 38 Personen namens Andreas Schmidt abgebildet, deren Bilder er über Google fand. In „Schmidt Sean Andreas Schmidt“ hat er mit seinem Sohn Sean Kinderbilder von sich selbst nachgestellt und Alt und Neu einander gegenübergestellt. In „Porn“ bildet er unter schwarzen Platzhaltern nur die Internetanpreisungen von pornografischen Inhalten ab. Und für „153 Page Psycho“ hat er 2439 Fotos vom Bildschirm gemacht, während Hitchcocks „Psycho“ lief – ein Grenzgang zwischen bewegtem und unbewegtem Bild.

    Dieses Gespräch fand zwischen Schweinfurt und London via Skype statt – Autor und Künstler sahen einander auf ihren Computerbildschirmen. Ein gutes Beispiel für die Art Realität, mit der Andreas Schmidt sich auseinandersetzt.

    Frage: Gesamtbuchkunstwerk. . .

    Andreas schmidt: . . . skulptur. Schau, da hinten hängt sie. (Schmidt dreht seinen Computer, so dass das runde – leere – Regal an seiner Wand sichtbar wird). Ich traue mich nicht, Bücher reinzutun, das Ganze würde vermutlich runterkrachen. Die Wände in meinem Haus in London sind über 130 Jahre alt! Außerdem gefällt es mir sehr gut so.

    Mit der Anspielung auf die Form des Dia-Karussells von Kodak können aber vermutlich nur ältere Menschen etwas anfangen. . .

    schmidt: Wenn ich Vorträge halte, habe ich immer auch ein – digitales – Dia dabei, das die Form erklärt. Viele wissen schon noch, was das ist. Aber ja: Das ist natürlich eine historische Anspielung. So wie vielleicht in 15, 20 Jahren auch das Buch historisch sein wird.

    Gesamtbuchkunstwerkskulptur klingt ziemlich deutsch. Hast du die Hoffnung, dass das Wort vielleicht mal Eingang in die englische Sprache findet – wie Waldsterben, Zeitgeist oder Schadenfreude?

    schmidt: Der Begriff Gesamtkunstwerk wird schon seit längerer Zeit in der englischen Kunstszene verwendet. Wie bei vielen meiner Bücher ist auch im neuen Begriff ein ironischer Aspekt dabei. Als Exildeutscher habe ich mir einen extra langen deutschen Titel ausgedacht, um auf die Idiotie bei manchen Betitelungen von Kunstwerken hinzuweisen. Auf der anderen Seite trifft das Wort das Objekt schon sehr genau. Allerdings schreiben die Engländer den Begriff dauernd falsch. Da habe ich zwar Spaß dran, unglücklich wiederum ist, dass man Kommentare und Rezensionen im Internet wegen all der falschen Schreibweisen kaum finden kann.

    Buch Nummer 78 könnte also eine Auflistung aller falschen Schreibweisen von „Gesamtbuchkunstwerkskulptur“ sein.

    schmidt: (lacht) Eine gute Idee! Ich könnte auch dich beauftragen, für die nächsten fünf Jahre meine Bücher zu machen und meinen Namen drunterschreiben. Dann muss ich gar nicht mehr arbeiten.

    77 Bücher – du arbeitest nach dem seriellen Prinzip. Serien oder Listen sind so alt wie die Kulturgeschichte, denkt man an das Alte Testament oder die 2063 Frauen von Don Giovanni. Im Internet gibt es das Phänomen „Compilation“. Wie kommt das?

    schmidt: Ich glaube, Listen und Reihen sind immer interessant für Künstler. Wann immer man ein Phänomen intensiver untersucht, gelangt man zur Liste. Ob das Warhols Marilyns sind oder On Kawaras Date Paintings – nur wenn man eine gewisse Summe betrachtet, kann man zu einem Ergebnis gelangen. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass autistische Menschen gerne Reihen untersuchen. Ich müsste mich mal diagnostizieren lassen, aber ich glaube, ich habe einen leichten autistischen Anschlag. Weil mich Reihen und Muster total faszinieren. Durch die extensive Reihung – etwa von Korridoren in Hotels in Las Vegas – passiert noch etwas anderes: Der Betrachter wird sich der Dimensionen erst bewusst. Darin kann auch eine Kritik liegen.

    Das Internet spielt eine große Rolle in deiner Arbeit – was bedeutet die Allverfügbarkeit aller Bilder in jedem Winkel der Welt für dich als Fotograf, der doch die Aufgabe hat, die Welt aus seiner Sicht zu zeigen?

    schmidt: Durch das Phänomen Print on demand kann ich wesentlich experimentellere Bücher machen als die beiden, die ich bei Hatje Cantz herausgebracht habe. Andererseits habe ich schon immer viel Zeit im Internet verbracht und als eitler Fotograf meinen eigenen Namen gegoogelt, um zu sehen, wo meine Bücher erwähnt sind. Da kam mir die Idee, ein Buch über 38 Menschen zu machen, die auch Andreas Schmidt heißen. Die erste Faszination war zu sehen, was visuell bei bestimmten Suchbegriffen herauskommt.

    Aber das sind alles Fotos, die jemand anders gemacht hat.

    schmidt: Hier kommt der Begriff der Realität ins Spiel. Wenn man mit dem Apple-Computer einen Screenshot macht, also den Bildschirm ausdruckt, macht er das Geräusch eines Kameraverschlusses. Die Realität des Internet ist längst ein Teil der Realität als solcher. Der englische Schriftsteller J. G. Ballard hat das ganz toll formuliert: Realität ist das gleiche Konzept wie eine Theaterbühne – sie kann jederzeit auseinandergenommen und dekonstruiert werden. Eine Realität ist wie die andere, ob realer oder virtueller Raum.

    Was bedeutet das?

    schmidt: Ich habe das sehr intensiv erfahren, als ich für ein Fotobuch via Google Street View die Straßen von Los Angeles rauf und runtergelaufen bin und einfach nur Bilder von Zäunen und Toren der reichsten Häuser der Welt gemacht habe. Ich saß jeden Tag drei, vier Stunden am Computer und habe im Kopfhörer meditative Geräusche angehört. Dieser kombinierte Effekt von Waldesrauschen im Ohr und den sonnigen Straßen von Los Angeles war fast, als wäre ich tatsächlich dort gewesen. Wenn ich dann zum Lunch gegangen bin und hier in London draußen Schnee lag, war das dann die völlig andere Realität. Man sollte diesen Begriff also sehr vorsichtig nutzen. Wir sitzen ja jetzt auch hier und sprechen per Skype, und es ist fast so, als würden wir einander direkt gegenübersitzen. Es war also für mich als Fotograf ein logischer Schritt, in der neuen Welt des Internet zu fotografieren. Das ist außerdem viel bequemer und kostengünstiger.

    Du machst also das, was Fotografen immer schon gemacht haben, nur mit anderen Werkzeugen?

    schmidt: Ja. Der Fotograf erfindet ja nicht, sondern er reduziert. Er macht einen Rahmen um etwas herum. Er entscheidet, welchen Ausschnitt aus welcher Distanz er wählt. Natürlich kann man einwenden, dass ich im Internet keinen Einfluss auf das Licht habe. Auf der anderen Seite finde ich diesen Ansatz im Moment fast überflüssig. Denn die Tatsache, dass Google Street View existiert, dass ich damit nach Los Angeles reisen kann, interessiert mich im Moment als Künstler fast mehr als direkt vor Ort zu sein. Inzwischen ist außerdem das iPhone so toll geworden, dass es die großen Kameras fast überflüssig macht. Als in den 50er-, 60er-Jahren der Farbfilm eingeführt wurde, hatten viele Fotografen damit ein Problem und sagten, das hat nichts mehr mit Fotografie zu tun.

    Was passiert denn jetzt mit der Gesamtbuchkunstwerkskulptur?

    schmidt: Ich war damit in Paris bei der Kunstbuchmesse OFF Print und hatte sehr gute Resonanz. Aber es ist natürlich schwer, so etwas zu verkaufen. Ich habe die Produktionskosten des gesamten Objekts verdoppelt, der Preis ist jetzt 9999,99 Pfund. Den muss ein Sammler oder ein Museum erstmal aufbringen. Was mich sehr gefreut hat: An meinem Stand ist plötzlich die Künstlerin Sophie Calle aufgetaucht und hat sich intensiv mit meiner Arbeit auseinandergesetzt. Sie hatte die für die Sammlung der Tate Modern verantwortliche Kuratorin im Schlepptau, die sich einen Katalog hat geben lassen – da bin ich noch am Hoffen. . . Einzelne Bücher haben zum Beispiel das Victoria and Albert Museum gekauft, das Centre Pompidou, das Minnesota Center for Book Arts, das Centre des livres d’artistes oder das Fotomuseum Antwerpen.

    Nachdem dieses große Projekt jetzt abgeschlossen ist – wie geht's weiter?

    schmidt: Ich unterrichte und halte viele Vorträge in Galerien und an Universitäten. Außerdem planen wir mit unserer Gruppe ABC – Artists' Book Cooperative ein neues Projekt. Das wird sehr zeitaufwendig werden. Aber ich habe 77 Bücher in fünf Jahren gemacht, da will ich jetzt schon ein bisschen Tempo rausnehmen. Einige Bücher werde ich in Prints umwandeln. Damit kann man wesentlich mehr Geld verdienen – das ist zwar idiotisch, aber so ist es nunmal. Derzeit bin ich dabei, die 2500 Fotos aus „Psycho“ in ein großes Wandbild zu verwandeln.

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