Christine Büschel – in Dingolshausen besser als Christel bekannt – sitzt in der urigen Gaststube mit den dicken Eichenbalken und blättert in einem alten Schulheft. Seite für Seite verraten die angegilbten Seiten, was es hier vor rund einem Jahrhundert wohl zu essen gegeben hat. Manches, was dort in gestochener deutscher Schrift notiert ist, gilt heute als ausgemachte Delikatesse: Rebhühner zum Beispiel, oder gebackene Froschschenkel. Anderes ist vom Geschmack der Zeit überholt worden. Wo kommen heute noch Milzwurst, Hirn-Schnitten oder gar Hirn-Suppe auf den Tisch?
1909 das Anwesen erworben
Aufgezeichnet hat die Kochrezepte Christina Freitag, Christel Büschels Großmutter. 1909 erwarb sie das Anwesen und eröffnete zusammen mit ihrem Mann Andreas am 23. Mai den „Gasthof zum Löwen“ – mit Metzgerei, Tanzsaal und Asphalt-Kegelbahn. Von diesem großen Tag kündet eine alte Zeitungsannonce, die Christel Büschel wie viele andere Erinnerungsstücke in ihren Ordnern hortet. Bilder, Dokumente und Rechnungsbücher, die nicht nur ein Spiegel der einhundertjährigen Gastwirtstradition der Freitags sind, sondern auch den Wandel des Charakters einer Dorfwirtschaft an sich widerspiegeln.
Nur wenige Tage nach der Eröffnung, am 29. Mai, kam Stammhalter Anton, der Vater der jetzigen Eigentümerin, zur Welt. Bereits 1921 starb Andreas Freitag. Schwere Zeiten für Christina Freitag und ihre Kinder brachen an. Anton lernte schließlich wie sein Vater Metzger und besuchte die Landwirtschaftsschule. 1950 übernahm er die Gastwirtschaft von seiner Mutter Christina, musste aber, da er im Krieg einen Arm verloren hatte, die Metzgerei aufgeben.
Ein Jahr später heiratete Anton Freitag seine Anna. Sie galt als gute Köchin und unterstützte ihren Mann bei der Arbeit in der Landwirtschaft. Um die Gastwirtschaft kümmerte sich derweil Antons Schwester Rita. Es war eine Zeit, in der sich das gesellige Dorfleben vorwiegend im Gasthaus abspielte. Das hatte nicht zuletzt auch mit dem 1948 ins Leben gerufenen Fußballverein zu tun. Anton „Toni“ Freitag war einer der Gründerväter. Im Saal des Löwen pulsierte das Leben. Es gab bunte Abende, Theateraufführungen, Tanzveranstaltungen.
Musikalischer Stammgast im Saal war „Kilian Sauer mit seinen Solisten“. Das Tanzbein wurde geschwungen, bis sich im wahrsten Sinne des Wortes die Balken bogen – nämlich die des hölzernen Fußbodens. Die Polizei kontrollierte pünktlich um 22 Uhr, dass sich keine Jugendlichen mehr im Saal aufhielten. Und wenn es mal wieder zu hoch herging und die Fäuste flogen, so erinnert sich Büschel, ging ihre Mutter Anna Freitag höchstpersönlich mit dem Schrubber dazwischen und kühlte resolut allzu hitzige Gemüter. „Viele Alte im Ort schwärmen noch immer vom Saal“, sagt die heutige Eigentümerin: „Sie haben dort ihre Jugend verbracht.“
Auch das Wirtschaftswunder ging an der Dorfwirtschaft der Freitags nicht vorbei. Im Zuge der Flurbereinigung in den 50er und 60er Jahren waren viele Arbeiter in den Gästezimmern einquartiert. Die gegenüberliegende Brauerei Hümmer hat laut Christel Büschel „in den Sechzigern richtig gebrummt.“ 100 Mitarbeiter waren dort beschäftigt. Braumeister, Bürokräfte, Monteure und Vertreter, die gerne gleich gegenüber ihrer Arbeitsstätte einkehrten. „Denn früher“, so erzählt die Wirtin, „war das Wirtshaus auch das örtliche Kommunikationszentrum. Wenn du was erfahren wolltest, musstest du zum Toni gehen.“
Flimmerkasten in der Küche
1957 hielt auch das Fernsehen Einzug in die Gaststätte der Freitags. Anton Freitag hatte den Flimmerkasten in der Küche aufgestellt, um keine GEMA zahlen zu müssen. Doch wenn Fußball lief oder eine populäre Serie, schnappten sich viele Gäste ihre Stühle und die Küche füllte sich rasch mit Zusehern, erzählt Christel Büschel, und lacht.
1975 übernahm dann sie als gelernte Hauswirtschafterin den Betrieb. Ihre Eltern wie auch ihre Tante Rita unterstützten sie weiterhin. Vieles tat man für die Verschönerung des Gasthauses. In den 80er Jahren wurde im Gastraum verstecktes Balkenwerk freigelegt und eine Holzdecke eingezogen. „Denn Bier und Qualm gehörten damals zusammen“, sagt Christel Freitag. Und sie war es leid, einmal im Jahr die Wirtschaft komplett neu ausweißen lassen zu müssen.
Ihre Eltern und Tante Rita leben schon lange nicht mehr, doch auf Hilfe aus der Familie muss Christel Büschel auch heute nicht verzichten. Ihr jüngster Sohn Steffen hat vor kurzem seine Ausbildung zum Koch mit Bravour abgeschlossen und kocht im elterlichen Wirtshaus zusammen mit seiner Mutter für die Gäste. Zusammen gehen sie die neuen Herausforderungen an, die sich heute der Gastronomie stellen.
Viele Vereine haben mittlerweile ihr eigenes Domizil, zudem gibt es weit mehr Feste als früher. Auch das Einkehrverhalten der Leute hat sich geändert, wie Christel Büschel beobachtet hat: „Früher sind die Leute nach der Arbeit nicht sofort nach Hause gefahren, sondern sind erst einmal eingekehrt – auch mal nur, um etwas zu trinken.“
Diesem Wandel müssen Wirte Rechnung tragen. Christel Büschel ist keine Ausnahme: „Wenn man sich da nicht verändert, ist man weg.“ Gab es früher ein Tagesessen, kann der Gast heute aus einer Karte mit vielen fränkisch-saisonalen Spezialitäten wählen. Auch zahlreiche Gesellschaften schätzen die Gastfreundschaft der Büschels. „Das Lokal läuft schon gut“, sagt Steffen Büschel: „Man darf es nur nicht nach Stunden rechnen.“ Doch zeitintensiv war der Wirtshausalltag schon immer. „Bei uns war 365 Tage im Jahr Betrieb“, erinnert sich Christel Büschel. Ruhetag war damals ein Fremdwort. Nur an Heiligabend, da war bereits nach dem Mittagstisch Schluss.
Hineingewachsen
Manchmal, so gesteht sie, frage man sich schon, warum man das alles macht. Die Antwort gibt sie sich selbst: „Weil ich mit dieser Wirtschaft verbunden und da hineingewachsen bin.“ Motivation bezieht sie nicht zuletzt aus den 100 vergangenen Jahren, aus denen sie so viele Erinnerungsstücke gesammelt hat: „Meine Großeltern und Eltern mussten sich weit mehr durchbeißen. Da habe ich schon die rosigen Zeiten.“