
Nein, seine 83 Jahre sieht man Günter Grass wahrlich nicht an. Leicht gebückt, aber ansonsten vital und geistig ohnedies hellwach liest der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1999 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) im oberfränkischen Ebrach aus seinem jüngsten Werk.
Selbst das dunkle Haupthaar scheint im Gegensatz zum walrossartigen Schnauzer nicht ergrauen zu wollen. Seine ruhige, ausdrucksstarke Stimme, gepaart mit der ihm eigenen Gestik, die stark von den wohlgesetzten Handbewegungen lebt, lassen ihn um Jahre jünger wirken, wenn er festen Blickes, leicht über den Brillenrand hinweg, ins Publikum schaut. Allein schon durch seine Präsenz nimmt er seine Zuhörer, nicht nur im Knast, gefangen.
„Lesen sollte man nicht als Zeitvertreib, sondern als Bereicherung empfinden.“Günter Grass in der JVA Ebrach
Einzig die zunehmende Schwerhörigkeit soll ihm später merklich Probleme bereiten, die Fragen der jungen Gefangenen und Kollegiaten zu verstehen, und so verraten, dass er doch in die Jahre gekommen ist.
Wie die beiden Hauptfiguren seines jüngsten Romans „Grimms Worte“, die Gebrüder Grimm, weiland in der Göttinger Universitätsbibliothek zu Hause waren, so fühlt sich Günter Grass hier in der restaurierten, alten klösterlichen Sommerbibliothek der Zisterzienser sichtlich wohl.
Wie daheim in Lübeck steht er, der Literaturnobelpreisträger, nun am Stehpult. Er trägt den obligatorischen braunen Tweedsakko, darunter ein lila Hemd und darüber einen weinroten Pulli, keine Krawatte. Es fehlt nur die Tabakspfeife, die er für gewöhnlich in der Hand hält.
Virtuos auf dem Klavier der deutschen Sprache spielend, zerrt Grass anhand von „Grimms Wörter“ nach und nach, wie ein Archäologe, den ganzen „Schatz“ der deutschen Sprache aus der schier unerschöpflichen Fundgrube ans Licht.
Gleichzeitig bringt er in „Grimms Wörter“ dem Leser die deutsche Geschichte nahe, beginnend mit der Kleinstaaterei und den ersten Gehversuchen der Demokratie über Reichsgründung, Kaiserreich und Weimarer Republik bis hin zu Nationalsozialismus und DDR.
Und immer wieder nutzt er die Gelegenheit, vom 19. Jahrhundert der Grimms in seines, das 20. Jahrhundert, zu wechseln. Genial würden die jungen Leute heute dazu sagen, die A wie Apple buchstabieren, wie er süffisant anmerkt, um selbst in einen Anglizismus zu verfallen.
Nein, er ist kein Freund des Computers, bekennt er freimütig. Seine Manuskripte verfasst er handschriftlich am erwähnten Stehpult. Die beiden nächsten, korrigierten Fassungen tippt er in seine museumsreife Olivetti-Schreibmaschine. Erst dann ist die Sekretärin an der Reihe und gibt den Text in den PC ein.
Die Liebeserklärung an die Brüder Grimm soll übrigens das letzte große literarische Werk von Günter Grass sein. Da trifft es sich gut, dass er nicht nur Schriftsteller, sondern Bildhauer, Grafiker und Zeichner ist. So kann er weiter Tag für Tag von 11 bis 19 Uhr seinem künstlerischen Schaffensdrang im Hinblick auf Schriftstellerei, Radierungen, Lithografien und Skulpturen frönen („Beim Töpfern ruht sich der Kopf aus“). Es sei denn, er ist nicht gerade, wie jetzt, auf Lesungen unterwegs.
Erst nachdem er das Buch zugeklappt hat, greift er erstmals zum bis dahin unberührten Glas Wasser, um danach „gespannt“ der Fragen aus dem Publikum zu harren.
Als er auf A wie Ausweisung zu sprechen kommt, tritt der politische, der kämpferische Grass zutage. „Heute heißt es abgeschoben und passiert täglich in der Bundesrepublik. Sogar Familien werden auseinandergerissen“, stellt er fest, und klagt an: „Ich halte das für ein Unrecht.“
Schreiben sei für ihn immer ein „Existenzüberlebensmittel“ gewesen. Und er rät allen, Tagebuch zu führen. Ebenso wirbt er bei den jungen Leuten dafür, selbst laut zu lesen oder anderen laut vorzulesen, und Lesen nicht als Zeitvertreib, sondern als Bereicherung zu empfinden. Und alle, die über Schule und ihre Zwänge maulen, erinnert er daran: „Es ist nach wie vor ein Privileg, zur Schule gehen zu dürfen.“
Geduldig trägt er sich noch ins von Anstaltsleiter Gerhard Weigand mitgebrachte „Goldene Buch“ der JVA ein und setzt seinen Namen unter die ihm zum Signieren vorgelegten Bücher. Dann öffnen sich für ihn und die anderen Gäste wieder nach und nach die Gefängnistüren in den Gemäuern der alten Abtei.
Zurück bleiben die beeindruckten 60 Gefangenen, für die er in erster Linie hierher mit seiner Frau Ute, auf Vermittlung von Nora Gomringer, der Leiterin des Internationalen Künstlerhauses in Bamberg, an diesem Wintertag ins tief verschneite Ebrach gekommen ist.
Wieder einmal hat Grass gezeigt, dass er immer noch viel zu sagen hat, und er hat dabei alle auf seine Art und Weise gefangen genommen . . .
Der Diskussionszeitraum für diesen Artikel ist leider schon abgelaufen. Sie können daher keine neuen Beiträge zu diesem Artikel verfassen!