Samstagabend, neun Uhr. Die warme Luft in den Straßen der Stadt erzählt von einem dieser warmen, fast sommerlichen Herbsttage. Noch immer spielen Kinder in den Hinterhöfen. Auf den Terrassen der Restaurants genießen die Menschen den lauen Abend: Wochenende, Zeit, einmal abzuschalten.
Nicht für Dilan. Dilan Salatan heißt die junge Frau mit vollem Namen, aber man duzt sich im Nachtleben, erzählt sie und streicht sich ihre langen, dunklen Haare aus dem Gesicht. Dann also Dilan.
Die 26-jährige Studentin jobbt seit einem halben Jahr als Barkeeper in der Würzburger Kneipe Nachtwächter. Für sie beginnt in diesen Minuten, in denen die Nacht langsam den Tag verdrängt, ihre Schicht. Aus den Boxen dudelt leise ein Rocksong. Dilan hat ihn aufgelegt. Sie liebt diese Zeit, in der sie die Bar ganz für sich hat. Dann kann sie DJ spielen. Sie füllt die Getränke auf, lässt schon einmal Spülwasser ein, zählt die Kasse. Es ist eine ganz besondere Stimmung im schummerigen Licht der urig eingerichteten Bar. Irgendwo zwischen Neugier und Anspannung, zwischen Vorfreude und Ungewissheit.
Dass die junge Frau genau dann arbeiten muss, wenn alle feiern, stört sie nicht. „Die Abende in der Kneipe sind für mich eine Mischung aus Arbeiten und Weggehen“, erzählt sie und ihre dunkel geschminkten Augen leuchten.
Keiner will der erste sein
Quietschend geht die schwere Metalltür auf. Ein Geräusch, das Dilan nicht all zu oft hört, meist wird es von der lauten Musik, von den singenden Gästen übertönt. Eine Gruppe Mädels linst vorsichtig um die Ecke. Verlegen laufen sie durchs schummerige Licht und blicken sich um. „Wir kommen später noch wieder“, murmeln sie noch leise bevor sie schnell wieder durch die schwere, quietschende Tür verschwinden. Das sei ganz normal, meint Dilan. Keiner will der Erste sein. Zu früh unterwegs sein, ist uncool.
„Ganz schön was los, die Sanderstraße ist voll“, erzählt ein junger Mann als er wenig später die Kneipe betritt. Dilan weiß, was das bedeutet: Es wird eine lange, stressige Nacht.
Jede Stadt hat eine Straße oder ein Viertel, in dem sich die Bars aneinanderreihen. In Würzburg ist die Sanderstraße wohl die Straße mit der höchsten Kneipendichte. Hunderte Menschen tummeln sich dort in dieser lauen Nacht. Mit einem Bier in der Hand sitzen sie auf dem Bürgersteig, machen ein Erinnerungsselfie oder Rauchen vor den offenen Fenstern der Bars. Musik dringt leise nach draußen, lautes Lachen hallt durch die Häuserschluchten. Hektik kommt nur auf, wenn die Straßenbahn kommt und die Straße plötzlich freigemacht werden muss. „Die Sanderstraße ist die Straße, in der man in Würzburg weggeht. Samstags ist hier am meisten los“, erzählt Carsten, Mitarbeiter in der Diskothek Kurt&Komisch und in der Bar nebenan, dem Loma. „Hier findet jeder das, was zu ihm passt“, meint auch Caro. Die 29-Jährige ist eigentlich Lehrerin, kellnert aber seit acht Jahren im Reu, einer der vielen Kneipen in der Straße. So wie die beiden sehen das auch die Mitarbeiter der vielen anderen Kneipen in dem Viertel.
Beim Dönerimbiss nebenan ist Hochbetrieb. Viele schaffen sich eine Grundlage für die lange Partynacht, andere sind schon etwas länger unterwegs und erliegen den Heißhungerattacken. Im Dunst von gegrilltem Fleisch, Zwiebeln und Shishapfeife wird philosophiert – über Fußballentscheidungen, über die Probleme der Welt und darüber, wo die Party weitergeht. Beziehungen werden lautstark infrage gestellt, neue Freundschaften werden geschlossen, auch wenn viele schon nach wenigen Minuten wieder enden. Özden kennt das. Er arbeitet seit 16 Jahren in dem Imbiss.„Ohne Döner geht es nicht“, erzählt er während er vor seinem Laden eine kurze Pause macht. Die Menschen kennen ihn, viele bleiben stehen, fragen, wie es ihm geht. An einem guten Samstagabend verkauft er beinahe doppelt so viel wie unter der Woche. Dönerfleisch schneiden, Salat, Zwiebeln, Soße in das Brot schichten – manchmal macht er das bis fünf Uhr morgens, erzählt der 39-Jährige. Vor ihm liegt noch eine lange Nacht. Es ist ein Uhr.
Fließbandarbeit auch bei Dilan im Nachwächter. Mit geübten Händen zapft sie ein Bier nach dem nächsten. Vor der Tür der Kneipe hat sich inzwischen eine Schlange gebildet. Immer wieder müssen die Türsteher die Wartenden vertrösten. Es ist einfach zu voll. Zwischen Spice-Girls–Musik und Bierdunst wird gegrölt, getanzt und geflirtet. Auch Dilan wird immer wieder angebaggert. „Manchmal bekomme ich dann auch eine Nummer zugesteckt“, flüstert sie und lacht. Eine neue Bestellung wird ihr zugerufen. Schnell füllt sie das nächste Glas. Das wievielte? Die 26–Jährige weiß es nicht. „Ich werde morgen bestimmt Muskelkater haben, vor allem vom vielen Spülen“, erzählt sie.
Um drei Uhr geht das Licht an
„Ich wollte nie erwachsen sein“, brummt Peter Maffay aus den Lautsprechern. Laut grölen die Gäste mit. Ein letztes Aufbäumen nachts um drei Uhr. Ein letzter Moment in dieser schummerigen, bierdunstigen Welt, weit weg von den Sorgen des Alltags. Dann geht das Licht an. Zu hell. Eilig trinken sie ihre Gläser leer und ziehen weiter. Irgendwohin, wo ihre kurze Auszeit weitergeht.
Da ist sie wieder, diese seltsame Ruhe – alkoholgeschwängert und gelöst, noch immer voller Erwartungen. Dilan und ihre Kollegin sammeln Gläser von den Tischen, spülen, füllen Getränke auf, kontrollieren die Kasse. Noch einmal darf Dilan DJ spielen. Sie legt „Guilty“ aus dem Sountrack des Films „Die fabelhafte Welt der Amélie“ auf. Eine kurze Zeitreise ins Paris längst vergangener Zeiten. Dann löscht Dilan das Licht. Sie schließt die schwere quietschende Tür, hakt sich bei ihrer Kollegin unter und verschwindet in die Würzburger Sanderstraße. Fünf Uhr. Jetzt beginnt ihre Samstagnacht.