Rais Bhuiyan hat überlebt. Er war einer von drei Männern, die der Amerikaner Mark Anthony Stroman nach den Anschlägen des 11. September 2001 in einem Rachefeldzug in Texas attackierte. Zwei Männer tötete Stroman, Bhuiyan feuerte er mehrmals ins Gesicht. Seitdem ist der heute 42-Jährige auf einem Auge blind. Trotzdem verzieh er dem zum Tode verurteilten Stroman – und setzte sich bis zu dessen Hinrichtung vergeblich für eine Begnadigung ein. Im Gespräch in Würzburg erklärt der Friedensaktivist, wie man einem Amokläufer verzeihen kann, warum persönliche Rache nur kurze Befriedigung bringt und warum er an seinem Appell zur Vergebung auch mit Blick auf Attentate wie in Paris festhält.
Frage: Wie kann man dem Mann vergeben, der einen erschießen wollte?
Rais Bhuiyan: Das ist ein Prozess, keine schnelle Sache. Man vergibt nicht plötzlich. Als ich angeschossen wurde, betete ich zu Gott. Und ich versprach, dass ich mein Leben anderen widmen würde, sollte ich überleben. Das war im Krankenwagen auf dem Weg ins Hospital. Ich konnte nichts sehen und nicht denken, wegen der Schmerzen, und ich hatte Angst zu sterben. Als ich mein Leben zurückbekam, fühlte ich mich dankbar. Aber ich war auch voller Wut und Traurigkeit.
Da erinnerte ich mich an den Rat meiner Mutter, in Extremsituationen nicht gleich zurückzuschlagen. Denn es ist ein typisch menschliches Verhalten, auf Verletzungen sofort antworten zu wollen, um nicht schwach oder machtlos zu wirken. Meine Mutter lehrte mich, mir Zeit zu nehmen und eine kluge Entscheidung zu treffen.
Noch immer stecken mehr als 35 Schrotkugeln in Ihrer rechten Gesichtshälfte, Sie sind auf einem Auge blind. Fühlen Sie keine Wut oder Trauer?
Bhuiyan: Nein, ich hege keine Rachegedanken. Ich war traurig, verzweifelt, weil mir in meinem Traumland Amerika ins Gesicht geschossen wurde. Ich konnte es nicht begreifen. Mein Leben war komplett zerstört. Aber ich bekam eine zweite Chance. Und wenn ich in der Wut verharrt hätte, wäre mein Traum, mit dem ich gekommen war, niemals wahr geworden. Um die Kontrolle über die Situation zurückzubekommen, hielt ich mich an den Rat: nachdenken, vergeben und vorwärts gehen. Die beste Form der Vergebung wäre es, auch noch zu vergessen und mit der Vergangenheit abzuschließen – aber dazu braucht es viel mehr Mut und Kraft. Für mich war es tatsächlich eine Art Heilungsprozess über mehrere Jahre. Nach einer Pilgerreise erkannte ich, dass es nicht genug wäre, Mark Stroman zu vergeben – er würde trotzdem hingerichtet.

Das aber wäre für niemanden ein Vorteil, weder für mich, noch für ihn, noch für die Gesellschaft. Deshalb wollte ich versuchen, sein Leben zu retten. Hass und Rache bringen nur kurzfristig Genugtuung. Sie sind keine langfristige Lösung, bringen keinen Frieden.
Sie konnten mit Stroman für wenige Sekunden vor dessen Hinrichtung telefonieren. Er soll Sie als Bruder betitelt und Ihnen gedankt haben. Nehmen Sie ihm diese Wandlung ab?
Bhuiyan: Ja, das tue ich. Wir müssen Menschen glauben, weil wir niemandem ins Herz blicken können. Kurz vor seiner Hinrichtung gab es keinen Grund, mich zu umschmeicheln. Du weißt, du hast nur noch wenige Stunden zu leben und redest mit der Person, die du einst töten wolltest. Ich wollte ihm sagen, dass ich ihn nie gehasst habe und ihm vergebe. Dann sagte er, ich liebe dich, Bruder und ich weinte.
Bereute er seine Tat?
Bhuiyan: Genau das tat er.
In die Kirche beispielsweise kommen wir seit jeher als reuige Sünder, bitten um die Vergebung eigener Fehler. Warum ist dieses reine Gewissen so wichtig in unserer Gesellschaft?
Bhuiyan: Wenn man auf das blickt, was in der Welt passiert – Leiden, Krieg, Hass – dann brauchen wir etwas, das uns ermutigt, diesen Kreis aus Verbrechen und Rache zu durchbrechen. Und ich glaube, Vergebung kann das sein. Es gibt aber leider ein falsches Verständnis des Begriffes; manche Leute kritisieren, Vergebung bedeute, keine Gerechtigkeit oder Straffreiheit für Kriminelle. So tendieren wir dazu, nicht zu vergeben.
Was steckt dann hinter dem Wort Vergebung?
Bhuiyan: Gute Frage. Um das zu verstehen muss man begreifen, was es nicht ist. Vergebung heißt nicht Minderung oder Rechtfertigung von Verbrechen. Meiner Meinung nach ist Vergebung die bewusste Entscheidung, mit einer belastenden Situation abzuschließen, die Gewalt, die Wut und den Ärger aus dem eigenen Herzen zu schütteln. Finden wir einen Weg, Frieden mit unserem Schmerz zu machen, bekommen wir die Kontrolle über unser Leben zurück. Gleichzeitig gibt man dem Täter eine Chance, zurück in die Gesellschaft zu finden.
Die Terroranschläge in Paris, das Morden der Nazis oder der Missbrauch von Kindern sind nur einige Beispiele von Verbrechen, die unvorstellbar grausam sind. Gibt es eine Grenze für Vergebung sprich Taten, die nicht zu vergeben sind?
Bhuiyan: Vergebung ist etwas Persönliches. Ich kann niemanden dazu bringen zu vergeben. Es muss von innen kommen. Blickt man auf Paris, auf die Anschläge, in einer solchen Situation gibt es keine einfache Antwort. Wer geliebte Menschen verloren hat, Schmerzen erlebt und Leiden, den kann man nicht dazu drängen, Terroristen zu vergeben. Was aber können wir tun? Meiner Meinung nach wird es in den nächsten Jahren darum gehen, die Wurzeln oder Ursachen zu bekämpfen, zu verstehen, warum Menschen so handeln, warum sie zur Waffe greifen und an öffentlichen Plätzen töten. Niemand wird als Terrorist geboren. Aber – und das heißt nicht, dass ich mit den Terroristen sympathisiere oder versuche, ihre Taten zu rechtfertigen – diese Dinge passieren und wir müssen die Ursache suchen. Erst dann können wir Lösungen finden. Ich denke, es gibt keinen Platz für Mörder oder Terroristen in unserer Gesellschaft. Wenn rund 130 Menschen wie in Paris sterben, ist das extrem leidvoll und ich verurteile das und den IS.Aber zur gleichen Zeit sterben Menschen in Syrien, die Spirale der Rache dreht sich weiter. Wir müssen einen Weg finden, diesen Kreis zu durchbrechen. Vergebung ist hier ein Werkzeug, das helfen kann. Oft sind aber Taten, die geliebten Menschen angetan werden, noch schwerer zu verzeihen, als eigenes Leiden. Wie reagierten die Familien der anderen Opfer Stromans auf Ihr Gnadengesuch?

Bhuiyan: Bevor ich mich an die Öffentlichkeit wandte, habe ich mit ihnen gesprochen. Mein Ziel war nicht Mark Stroman zu befreien, sondern sein Leben zu retten. Denn jedes menschliche Leben ist wertvoll – egal, wer die Person ist. Ich erklärte, auch Mark Stroman könnte ein besserer Mann werden, zur Gesellschaft positiv beitragen. Es gibt so viele Mark Stromans auf den Straßen, die ignorant sind und voller Angst vor dem Fremden und vielleicht hätte er ihnen mit Briefen, Blogs oder Gesprächen helfen können, auch wenn er hinter Gittern geblieben wäre. Nach einer Woche sagten beide Familien, ja, wir haben Mark Stroman vergeben. Es war nicht leicht, sie weinten. Aber sie taten es.
Würden Sie sich genauso für einen Todeskandidaten einsetzen, der beispielsweise Ihre kleine Tochter vergewaltigt und getötet hat?
Bhuiyan: Ich denke, niemand wird als böser Mensch geboren. Etwas passiert im Leben und dann wird man zum Monster. Mark Stroman beispielsweise wurde von seinem Stiefvater als kleiner Junge missbraucht. Als Teenager sagte ihm seine Mutter, wenn sie 50 Dollar gehabt hätte, hätte sie ihn abgetrieben. Wenn du das hörst, wirst du keinen Respekt haben, weder vor deinem eigenen Leben noch vor anderen. Du verlierst deine Menschlichkeit. Das ist ein Problem in unserer Gesellschaft, dass auf diese Art viele Kinder aufwachsen müssen. Wenn ich mir also vorstelle, mein Sohn wäre getötet worden. Ja, dann ist es eine Möglichkeit, den Mörder zu töten. Aber was wird dadurch erreicht? Das wird den Kreislauf aus Hass und Gewalt nicht stoppen. In Texas finden jeden Monat Hinrichtungen statt. Aber haben sie es geschafft, das Verbrechen zu beseitigen? Eine Hinrichtung sollte definitiv mehr als genug sein, um ein Beispiel zu setzen.
Sie kämpfen mit Ihrer Organisation für eine Welt ohne Hass, unterstützen Opfer und fordern interkulturelles Mitgefühl. Auch in Unterfranken haben Sie an Schulen gesprochen. Wie kann man Vergebung lehren oder lernen?
Bhuiyan: Ich denke, es ist wichtig, ein menschliches Beispiel zu geben. Wir haben alle unsere Geschichte, es ist nötig, unsere Gedanken zu teilen und zu diskutieren. So werden Gemeinsamkeiten deutlich. Wenn ich in Schulen spreche, rede ich als Mensch, nicht als Lehrer, Prediger, Professor oder Experte. Ich teile meine Geschichte und durch die Diskussion können wir Wege finden, Hass zu stoppen. Und wenn man Empathie, Mitleid, Vergebung und Liebe in jungen Jahren lernt, dann bleibt kein Platz für Hass und Ignoranz.
Wollen Sie also Vorbild sein?
Bhuiyan: Das sagen die Leute. Aber ich weiß nicht, ob ich das bin. Ich versuche, meine Überzeugung weiterzugeben, dass wir uns nicht aufgrund unserer Unterschiede spalten und voneinander entfernen sollen. Es wird immer schwarze und weiße Menschen, arme und reiche, Moslems, Christen oder Juden geben. Wir müssen lernen, die Verschiedenheit wertzuschätzen.
Tatsächlich war es der Hass auf Araber, der Stroman antrieb. Ähnliche Feindseligkeit wächst zum Teil nach den Attentaten des IS in Paris. Reicht es mit dem Appell an Mitgefühl und Vergebung, diesem blinden Hass entgegenzutreten?
Bhuiyan: Wir müssen versuchen, in größeren Dimensionen zu denken. Wie gesagt, wenn etwas Schlimmes passiert, kann man reagieren oder antworten. Das ist ein großer Unterschied. Emotionen wie Wut trügen das Urteilsvermögen. Wenn Dinge wie in Paris passieren, ist es aus meiner Sicht am besten, wenn wir uns Zeit nehmen und nicht vorschnell reagieren. Das ist nicht leicht. Und man kann das Geschehene nicht rückgängig machen. Aber wir können versuchen zu verhindern, dass so etwas wieder passiert.
Derzeit fliehen unzählige Menschen nach Europa, erleben dort nicht nur die viel beschworene Willkommenskultur. Sie selbst sind aus Bangladesch in die USA gekommen, wollten den American Dream leben. Dann wurden Sie überfallen. Glauben Sie noch an ein friedliches Miteinander der Kulturen und Religionen?
Bhuiyan: Niemand will ein Flüchtling sein, keiner träumt davon, aus seinem Land zu fliehen. Es wäre wichtig, dass die Menschen hier in Europa oder in Amerika versuchen, sich in die Flüchtlinge und deren Situation hineinzuversetzen. Diese Menschen konnten sich nicht aussuchen, ob sie fliehen wollten. Statt sich gegen sie zu wehren, sollten wir Empathie für sie entwickeln. Gibt es denn die von Ihnen propagierte heile Welt – ohne Hass – überhaupt?
Bhuiyan: Die gibt es. Wir müssen uns aber darüber klar werden: Wollen wir die derzeitige Situation überwinden oder wollen wir Menschen leiden lassen? Eine Menge Menschen leiden, das mag uns heute nicht betreffen, weil unser eigenes Leben fast perfekt ist. Aber es könnte uns oder einen geliebten Menschen eines Tages treffen.