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WÜRZBURG: Kickers-Projekt: Wenn Blinde Fußballspiele „sehen“

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Kickers-Projekt: Wenn Blinde Fußballspiele „sehen“

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    Hoch konzentriert, damit den Zuhörern kein Spielzug entgeht (von links): Ausbilder Björn Naß und die Blindenreporter Eberhard Dörr, Catherina Fechner, Michael Kober und Philip Schimpf.
    Hoch konzentriert, damit den Zuhörern kein Spielzug entgeht (von links): Ausbilder Björn Naß und die Blindenreporter Eberhard Dörr, Catherina Fechner, Michael Kober und Philip Schimpf. Foto: Patty Varasano

    Was macht ein Blinder auf dem Fußballplatz? Er pfeift das Spiel, werden die meisten jetzt antworten und grinsen. Falsch. Er verfolgt das Spiel auf der Tribüne. Geht nicht? Geht doch, sagten sich die Verantwortlichen der Kickers. Und damit ist der Verein der erste Drittligist in Süddeutschland, der blinden Fußballfans einen besonderen Service bietet.

    Es war die Premiere bei Heimspiel der Würzburger Kickers gegen den FVS Mainz II am Samstag in der Flyeralarm-Arena am Dallenberg. Erstmals in der Geschichte der 1907 gegründeten Kickers saßen vier offizielle Blindenreporter auf den Presseplätzen der Haupttribüne und hielten per Funk ihre sechs blinden oder sehbehinderten Zuhörer buchstäblich auf dem Laufenden. Damit sind die Kickers auch einer von nur sechs Drittliga-Vereinen in ganz Deutschland, die diesen Service jetzt dauerhaft anbieten.

    Zustande gekommen ist das Projekt auf Initiative des DFB. „Letztes Jahr im Sommer kam eine Mail vom DFB“, erinnert sich Tanja Bartsch Behinderten-Fanbeauftragte der Kickers. „Darin bot uns der DFB an, die Hälfte der Anschaffungskosten der Geräte zu übernehmen. Doch direkt nach dem Aufstieg war hier noch zuviel los.“ Erst im Herbst erinnerte sie sich an die Mail und fragte nochmals an. „Das Angebot galt weiterhin und da sagten wir zu.“

    Kickers-Spieltagsleiter Johannes Popp und das Sponsoring-Team der Kickers machten sich auf die Suche nach einem weiteren Sponsor, der die zweite Hälfte der über 3000 Euro Anschaffungskosten für die Geräte übernehmen würde und fanden ihn in Frank Igers, Geschäftsführer und Inhaber der Ohrpheus Hörgeräteakustik, mit Niederlassungen in Würzburg, Höchberg und Mannheim. Anfragen beim Berufsförderungswerk in Veitshöchheim und dem Blindeninstitut in Würzburg erbrachten vier Interessen für die Aufgabe.

    Auch für sachkundige Einweisung der neuen Blindenreporter war gesorgt. Dafür reiste Björn Naß, Referent beim Kompetenzzentrum für Blindenreportage im Sport der Arbeiterwohlfahrt aus Aachen an. Freitagabend vor dem Heimspiel, 18 Uhr, im Schulungsraum des Bayerischen Roten Kreuzes in der Zeppelinstraße, wo Tanja Bartsch als Teamleiterin arbeitet, legte er los.

    Seine „Schüler“ in der Kurzvorstellung: Philip Schimpf, 20 Jahre alt, aus Stuttgart, der in Würzburg Sonderpädagogik studiert. Sein Vater ist selbst sehbehindert. Philip trainiert außerdem die Blinden-Bundesliga-Fussballmannschaft mit, die es in Würzburg gibt. Catherina Fechner (23), sie studiert in Würzburg und ist fußballbegeistert. Sie wurde von einer Freundin auf das Projekt aufmerksam gemacht. Michael Kober (19), er studiert soziale Arbeit. „Meine Schwester arbeitet im Blindeninstitut und hat mich darauf aufmerksam gemacht“, sagt er. Der vierte im Bunde: Eberhard Dörr. „Ich bin schon etwas älter“, sagt er nur. Er arbeitet im Blindeninstitut seit 30 Jahren mit Blinden und Sehbehinderten. „Eine Landschaft kann ich ihnen beschreiben“, sagt er, „aber ein Fußballspiel?“

    Dann geht es schon ans Eingemachte. Naß versteht es schnell die Anspannung zu beseitigen. „Das drumherum macht das Stadionerlebnis aus, das ist etwas anderes, als ein Spiel im Radio anzuhören. Darum geht auch ein blinder Mensch ins Stadion“, erklärt er. „Deshalb muss die Reportage auch der Stadionatmosphäre Raum geben, ebenso wie den Geräuschen.“

    Er ist selbst Blindenreporter und weiß, was er sagt: „Wichtig: „Labert nicht über das Vereinslied drüber, wenn das gesungen wird, Niemals! Und wenn Pyrotechnik abgebrannt wird und man riecht das, sagt es. Ein Blindenreporter muss alles in Wörter übersetzen, was im und um das Spiel passiert“, erklärt er. „Ihr seid die Übersetzer, damit der Blinde mitreden kann. Und wenn der Behindertenblock aufspringt und schreit „Du blinde S... in Richtung Schiedsrichter, dann weißt Du, dass die Inklusion erreicht ist.“ Gelächter im Saal. So geht es weiter mit Erklärungen und Übungen bis weit nach 22 Uhr. Die Hausaufgabe: Sich auf das Spiel vorbereiten.

    Am nächsten Tag, der um 10 Uhr vormittags schon mit dem „freisprechen“ der Vier begann, geht's dann an's „Eingemachte“, wie es Eberhard Dörr nennt. Er hat den elfjährigen, blinden Arthur dabei. „Mal sehen, ob und wie es ihm gefällt“, sagt Dörr. Die vier Blindenreporter sitzen mit Kopfhörer und Mikro ganz oben auf der Haupttribüne, ihre „Kundschaft“ mit Betreuern und den Empfangskopfhörern irgendwo unter den Zuschauern.

    Immer zu zweit kommentieren sie das Spiel, hoch konzentriert, alle fünf bis zehn Minuten wird gewechselt. Naß sitzt die ganze Zeit daneben, hört zu, und macht sich Notizen für die Nachbesprechung. Es pfeift ein eisiger Ostwind über die Tribüne, von den Vieren spürt das scheinbar keiner. „Das ist anstrengender, als man gedacht hat“, sagt Philip Schimpf hinterher. Aber weitermachen wollen alle, sagen sie.

    Der kleine Arthur klinkt sich nach einer halben Stunde aus. „Das war wohl doch nichts für ihn“, sagt Dörr später. Der Rest der Zuhörer ist nach dem Spiel voll des Lobes. Und das nicht nur, weil die Kickers mit 1:0 gewonnen haben. „Das hat mir eine gute Orientierung verschafft“, sagt der blinde Adrian, der mit seinem Betreuer Lukas Glaser gekommen war. Auch dem sehbehinderten Marcus Hock hat es gefallen. „Wenn ich wieder einmal zu den Kickers gehe, werde ich das Angebot gern wieder annehmen“, sagt er.

    Sozusagen den Ritterschlag bekommen sie dann vom blinden Andreas Weiskopf: „Das hörte sich relativ ähnlich an, wie in anderen Stadien“, sagt er nämlich. „Ich habe so etwas schon bei Erst- und Zweitliga- und bei Länderspielen gehört, da können die hier mithalten. Für ein erstes Mal war es überraschend gut.“ Auch Björn Naß hat nicht viel zu meckern: „Für das erste Mal ist das definitiv sehr gut gelungen“, sagt auch er. Was will man mehr.

    Wer sich für das Angebot als Zuhörer interessiert oder sich zutraut, selbst als Blindenreporter mitzuarbeiten, wendet sich per Mail an Tanja Bartsch: tanja.bartsch@wuerzburger-kickers.de

    Blindenreportagen im Sport

    Eingeführt wurde die Blindenreportage in Deutschland am 15. Oktober 1999 beim Spiel von Bayer 04 Leverkusen gegen den SSV Ulm. Vorbild war Manchester United, die in der englischen Premier League führend sind, was die Behindertenarbeit betrifft. Dort wird auch das Stadionheft ein paar Tage vor dem Spiel als Podcast zum Herunterladen und Anhören angeboten. In Deutschland hat nur RB Leipzig das Stadionheft in Brailleschrift.

    Seit 2006 schreibt die FIFA auch bei den Ausschreibungen für Welt- und Europameisterschaften vor, dass „Guided Commentary“, so der englische Ausdruck, angeboten werden muss. Seit der Saison 2015/16 bieten es alle 18 deutschen Erstliga-Vereine als freiwillige Leistung an.

    In der zweiten Liga sind es in dieser Saison 16 von 18, in der dritten Liga sechs von 20 Vereinen. Neben den Kickers sind dies Holstein Kiel, Dynamo Dresden, Hansa Rostock, Energie Cottbus und der 1. FC Magdeburg.

    Der Großteil der Reporter arbeitet ehrenamtlich. Es gibt bereits Regionalgruppen mit jährlichen Treffen. Auch die DFL veranstaltet einmal im Jahr, immer im Januar, ein Fortbildungsseminar zur Qualitätssteigerung. In diesem Jahr kamen 94 Teilnehmer, darunter 76 Reporter aus 29 Vereinen.

    Am 1. September 2014 startete das von der Aktion Mensch geförderte und von der deutschen Fußball-Liga finanziell unterstützte Projekt „Blindenreporterkompetenzzentrum“ beim AWO Bundesverband. Ziel sei es, die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen in einem so wichtigen Bereich wie dem Fußball zu fördern und Inklusion als Leitprinzip voranzubringen, hieß es bei der Vorstellung.

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