Viele Diskussionen, gedämpfte Stimmung, gesunkene Einschaltquoten – eine aktuelle Studie bestätigt, dass die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar zumindest aus deutscher Sicht kein Knüller ist. Vielmehr zeigt sich einmal mehr die Entfremdung der Fans vom Verband und das Versagen des Deutschen Fußball-Bunds (DFB), meint der Würzburger Fan-Forscher Harald Lange. Gemeinsam mit zwei Kollegen und der Voting-Plattform FanQ hat der Leiter des Instituts für Sportwissenschaft an der Uni Würzburg vom 5. bis zum 7. Dezember unter der Überschrift "Was können wir aus der WM in Katar lernen?" eine Blitzumfrage durchgeführt, an der 3588 Menschen teilnahmen. Im Interview mit dieser Redaktion erklärt Lange die Ergebnisse.
Frage: Wie haben Sie die Fußball-WM bisher verfolgt?
Lange: Von Berufswegen ganz professionell. Ich habe vor allem die Debatten rund um das Turnier, die mediale Aufbereitung und die Stimmung unter den Fans verfolgt.
Die Sie in einer Studie gemessen haben. 3588 Fans haben in einer Blitzumfrage auf Ihre Fragen geantwortet und so ein Stimmungsbild zur WM, zum Abschneiden der Nationalmannschaft und zum DFB ermöglicht. Was ist in Ihren Augen die wichtigste Erkenntnis?
Lange: Die Stimmung unter den Fans ist mäßig, es gibt viel Kritik – vor allem am DFB. In sportlicher Hinsicht ist die wichtigste Erkenntnis, dass man aus vielen international hochkarätig spielenden Fußballern, wie es sie im deutschen Team gibt, nicht automatisch eine erfolgreiche Nationalmannschaft bilden kann. Und was die Atmosphäre betrifft, ist es dem DFB nicht gelungen, bei dieser umstrittenen WM eine klare Position zu finden, diese zu vertreten und gleichzeitig die Mannschaft zu schützen, sodass sich die Spieler auf ihre Leistung hätten konzentrieren können. Das haben ihm die Anhänger übel genommen.
Sie spielen auf die Debatte um die One-Love-Binde an?
Lange: Ja. Und auf das Foto der Nationalspieler mit zugehaltenem Mund. Diese beide Dinge haben aus Sicht der Fans die Leistung der Mannschaft ganz erheblich negativ beeinflusst.

Der DFB habe die moralische Verantwortung auf die Spieler abgewälzt, finden 51,8 Prozent der von Ihnen Befragten. Sie auch?
Lange: Ja, das sehe ich genauso. Was der DFB initiiert hat, waren letztlich Kampagnen-Proteste, deren Wirkung komplett nach hinten losgegangen ist. Bedauerlicherweise hat sich die Verbandsspitze bis heute nicht durchringen können, zum Scheitern dieser Kampagne Stellung zu beziehen. Die Verantwortlichen haben mit DFB-Direktor Oliver Bierhoff (der am 5. Dezember seinen Posten abgab, Anm. d. Red.) ein Bauernopfer geliefert und setzen darauf, dass es damit genug ist und man zur Tagesordnung übergehen kann. Die Hintergründe werden nicht kritisch aufgearbeitet.
Wie hätte der Verband Ihrer Meinung nach reagieren müssen?
Lange: Spätestens, als man kurz vor dem Japan-Spiel entschied, auf die One-Love-Binde zu verzichten, wurde klar, dass die Öffentlichkeit diese Entscheidung nicht versteht. Spätestens nach dem Spiel hätte der DFB-Präsident zugegeben müssen, dass das Einknicken vor der Fifa ein Fehler war. Stattdessen hat man noch einen draufgesetzt, indem man die Spieler instrumentalisiert hat mit dem doch sehr bedenklichen Mund-zu-Foto.

Warum halten Sie das Foto für bedenklich?
Lange: Das ist jetzt das Foto, das symbolisch für unsere Nationalmannschaft steht. Das werden wir jetzt in jedem Jahresrückblick sehen - und noch jahrelang im Internet. Die Botschaft dieses Fotos ist nicht eindeutig. Die DFB-Presseabteilung erklärte unmittelbar nach Entstehung des Bildes, es stehe symbolisch für den Maulkorb, den die Fifa verhängt habe. In der öffentlichen Wahrnehmung ist das Foto zeitgleich gegenteilig interpretiert worden. Nach dem Motto: Die Deutschen lassen sich den Mund verbieten. So wurde das Foto zu einem Zeichen für Schwäche. Vor allem in der arabischen Welt hat es in Kombination mit dem frühen Ausscheiden der DFB-Elf für Häme und Spott gesorgt

In ihrer Studie kam heraus, dass gar nicht so viele Menschen, wie man meint, sich vom Verband und den Spielern wünschen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Hat Sie das überrascht?
Lange: Ja, etwas. Ich hätte schon erwartet, dass sich mehr Fans das wünschen. Immerhin: 31,7 Prozent finden es wichtig, dass der Verband sich zu gesellschaftlichen Fragen positioniert. Wobei die Erwartung, dass einzelne Spieler Stellung beziehen, dann schon wieder größer ist. Das wünschen sich immerhin 44,2 Prozent der Befragten. Ich denke, nach dem Fehlschlag der One-Love-Kampagne trauen die Fans dem DFB in dieser Hinsicht nichts mehr zu. Den Spielern aber schon noch.
Kann von jemandem, der so in der Öffentlichkeit steht und so eine Reichweite hat wie ein Nationalspieler, nicht sogar verlangt werden, dass er sich positioniert?
Lange: Nein. Man kann es sich nur wünschen. Eine Werte-Haltung ist etwas sehr Persönliches, die kann man nicht erzwingen. Wenn fünf Spieler sich gesellschaftspolitisch äußern möchten, dann sollen sie das tun dürfen. Wenn gleichzeitig sechs andere sagen, sie haben jetzt keinen Kopf dafür, muss das auch in Ordnung sein. Meine These ist, dass durch die Kampagnen des DFB im Vorfeld der WM in der Gesellschaft überhaupt erst die Erwartung geschürt wurde, dass die Mannschaft geschlossen Haltung zeigt.

Also hat der DFB die Mannschaft schon vor der WM in eine ausweglose Situation gebracht?
Lange: Ja. Diese ganze Sache mit der One-Love-Binde war eine sehr unkluge Aktion vom DFB, weil man eben die Erwartungen einer klaren Positionierung geweckt hat, die der Verband weder hatte noch zeigen konnte. Dann aber wurde der Kampagnen-Protest als solcher enttarnt und das ist noch peinlicher, als wenn man keine kritische Haltung hätte.
Haben die Ergebnisse der Studie Sie überrascht?
Lange: Vieles war vorhersehbar. Überrascht hat mich ein wenig, dass das Image des DFB in einigen Punkten sogar noch schlechter bewertet worden ist als das der Fifa.

Zum Beispiel?
Lange: Zum Beispiel bei der Frage, welche Faktoren als Dämpfer der WM-Stimmung wahrgenommen wurden. Da waren Mehrfach-Antworten möglich. Ganz vorne liegt mit 49 Prozent das Verhalten des DFB. Gefolgt von der Austragung der WM im November/Dezember (48) und dem Verhalten der Fifa (47). Erst dann folgen die Leistung der deutschen Nationalmannschaft (40), die Bedeutung der Menschenrechte (39) und der Nachhaltigkeit (39) sowie die Fußballkultur in Katar (25).

Es rumort gerade gewaltig im DFB. Für wie realistisch halten Sie es, dass sich der Verband grundlegend saniert?
Lange: Das ist ausgeschlossen. Ich erinnere mich daran, wie ich Anfang des Jahres schon vor der Veröffentlichung unserer DFB-Basisstudie als Forscher öffentlich diskreditiert worden bin, nur weil der Verband schlechte Ergebnisse befürchtet hatte. Genau das hatten wir bereits damals herausgefunden. Dass das Image des DFB gerade in Sachen Glaubwürdigkeit und Werteorientierung unterirdisch ist. Statt mich anzugreifen, hätten die Verantwortlichen besser das Gespräch gesucht. Aber der DFB machte und macht weiter wie bisher und meint, so auch die Heim-EM 2024 angehen zu können.
Kommt der deutsche Fußball bis dahin wieder aus der Krise – zumindest stimmungsmäßig?
Lange: Ich sehe den Fußball an einem Scheideweg. Es gibt gute Chancen auf einen Stimmungsumschwung, wenn der DFB erkennt, dass gerade eine Zäsur stattgefunden hat – und echte Reformen einleitet. Wenn das nicht gelingt, wird der Fußball perspektivisch ein austauschbares Unterhaltungsprodukt werden.
FanQ - die Voting-App für FußballfansFanQ ist eine Voting-Plattform für Fußballfans, die mehrfach täglich aktuelle Themen aufgreift und Fans zu ihrer Meinung befragt. Mit den Votings und der daraus resultierenden Transparenz will das Unternehmen laut eigenen Angaben einen aktiven Beitrag für die soziale und nachhaltige Entwicklung des Fußballs leisten. Die App wurde laut FanQ (Stand Freitag) von 94.549 Menschen genutzt, es wurden 11.650.112 Antworten abgegeben und 1.478.921 Kommentare. Der Würzburger Fan-Forscher Harald Lange arbeitet seit 2021 mit FanQ zusammen und sitzt seit Beginn dieses Jahres in dessen wissenschaftlichem Beirat.Quelle: cam