Sehr geehrter Herr Reul, bisher kannte ich Ihren Namen nicht. Dann habe ich mich auf die Suche gemacht nach einem unermüdlichen, hartnäckigen und tapferen Kämpfer wider die Zeitumstellung – und habe Sie gefunden. Einen CDU-Europa-Abgeordneten aus Rheinland-Pfalz. Einen Mann, der sich mit Bankenregulierung, Verkehr und Energiepolitik abmüht. Und einen Mann, den man mit Fug und Recht als Don Quichotte der Zeitumstellung sehen darf, weil er trotzig und ziemlich allein und seit einem Dutzend Jahren gegen die Mühlen der EU-Bürokratie anrennt. Dafür meinen tiefempfundenen Dank, lieber Herr Reul. Sie kämpfen auch für mich!
Ich leide nämlich. Jedes halbe Jahr, wenn die Zeit umgestellt wird, leide ich. Einerseits unter meiner Unfähigkeit, zu begreifen, wann der Zeiger der Uhr vorgedreht wird und wann nicht. „Im Frühjahr werden die Gartenmöbel vor die Tür gestellt – und im Herbst zurück!“ – an solche Eselsbrücken klammere ich mich, weil ich an den Umstellungstagen ja sonst gar keinen Halt fände. Und richtig, ja, ich spreche von Umstellungstagen, weil jede Zeitumstellung mich nicht nur am Umstellungstag verwirrt, sondern mindestens eine Woche lang.
Weil ich aufstehen muss zu einer Zeit, zu der ich sonst schlafe. Weil ich mich im Job zu einer Zeit konzentrieren muss, zu der ich mir sonst den Schlafsand aus den Augen wasche. Weil Essen auf dem Tisch steht, bevor ich hungrig bin und weil wieder Schlafenszeit ist, bevor ich schlafen kann. In den Tagen der Umstellung fühlt sich also meine Körperwahrnehmung, auf die ich mich sonst fest verlassen kann, falsch an. Das mag ich nicht. Teile meines Ichs, auf die ich nicht so viel Einfluss habe wie ich es gerne hätte, reagieren auf diese Irritation mit Müdigkeit und Aggressivität. Ich hätte mir jetzt gerne eingebildet, besonders sensibel zu sein, habe aber zur Abklärung der Annahme Bekannte befragt.
Und siehe da: Fast alle klagen auch. Die junge Mutter darüber, dass ihr Still-Baby aus dem Rhythmus kommt. Die erfahrene Mutter über schlecht gelaunte, hundemüde Umstellungskinder. Der hartgesottene Kollege über Schlafstörungen, der Vize-Chef über Ermattung. Ob sie grundsätzlich lieber durchgehend Sommerzeit oder durchgehend Winterzeit hätten – darüber können meine Befragten trefflich streiten. Einig sind sie sich aber alle in der Forderung: „Wir wollen eine Zeit, eine Zeit, die bleibt!“
Und genau das, lieber Herr Reul, fordern Sie, obwohl anfangs viel belächelt, seit Jahren. Den Berichten über Sie entnehme ich, dass Sie nicht selten angegangen wurden, weil Sie sich so intensiv dieses doch eher soften, dieses angeblich belanglosen Themas annahmen. „Haben EU-Politiker denn nicht Wichtigeres zu tun?“, wurde Ihnen vorgeworfen. Sie aber haben schon 2005, in Reaktion auf den Brief einer Bürgerin, die darum bat, die Zeitumstellung endlich abzuschaffen, eine Anfrage an die Europäische Kommission gestellt, um sich den Nutzen der Sommerzeit erläutern zu lassen.
Die Antwort war mager, Ihr Wissendurst geweckt. In der Folge sind Sie hartnäckig am Thema drangeblieben. Und Sie haben herausgefunden, was mittlerweile, ein Dutzend Jahre nach Ihrer ersten Anfrage, auch aufgrund Ihrer steten Bemühungen, Allgemeinwissen ist. Dass nämlich, obwohl Energieeinsparungen Grund und Ziel der Zeitumstellung waren, der Energieverbrauch der Bürger dadurch – beweisbar – nicht sinkt und damit die Einführung der Sommerzeit nachweislich ihren Zweck verfehlt hat. Dass hingegen der Biorhythmus bei Mensch und Tier nachhaltig gestört wird. Dass dadurch das Krankheitsrisiko steigt.
Dass auch das Risiko für Verkehrsunfälle erhöht ist; auch für Wildunfälle – Wildsäue traben in der Morgendämmerung los, egal welche Zeit die Uhr zeigt. Mittlerweile sind wir in Deutschland so weit, dass sowohl die CDU/CSU wie auch die Linke zur Normalzeit zurückkehren wollen. Heißt das, dass wir, gegeben den Fall, dass sich auch die SPD anschlösse, endlich wieder eine Zeit hätten, die bleibt?
Nein, das heißt es leider nicht. Selbst wenn ganz Deutschland die Zeitumstellung wollte, könnte nur die EU sie zurücknehmen. Dafür allerdings bräuchte es Beschlüsse aller 28 EU-Mitgliedsländer. Und erst dann könnte sich die träge EU-Bürokratie in Bewegung setzen. „Ich will an dem Beispiel durchdeklinieren, ob die Politik unnütze Sachen zurücknimmt“, haben Sie gesagt – und darauf hingewiesen, dass die EU oft Vorschriften erlasse, unnütze oder auch belastende Vorschriften aber kaum zurücknehme.
Wenn man diesen Gedanken weiter denkt, tun sich Abgründe auf. Wie viele sinnlose Regeln halten wir alle ein – nur weil sie da sind? Weil das Rückgängigmachen mühsamer ist als das Durchsetzen? Da wird einem ganz schön mulmig – und man ist doch ohnehin schon so schlecht drauf wegen der Aussicht auf Zeitumstellung . . . Herr Reul, kämpfen Sie weiter!
Einer bekommt Post! – Der „Samstagsbrief“ Künftig lesen Sie auf der Meinungsseite am Wochenende unseren „Samstagsbrief“. Was das ist? Ein offener Brief, den ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Figur des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An eine Person, der wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur. Persönlich, direkt und pointiert formuliert wird der „Samstagsbrief“ sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der „Samstagsbrief“ ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir vom Adressaten Post zurück. Die Antwort und den Gegenbrief, den Briefwechsel also, finden Sie dann auf jeden Fall bei allen Samstagsbriefen hier. Und vielleicht bietet die Antwort desjenigen, der den Samstagsbrief zugestellt bekommt, ja auch Anlass für weitere Berichterstattung – an jedem Tag der Woche.