nüdlingen Die Straßen sind wie leergefegt. In diesen Teil von Nüdlingen verirren sich nur selten Fremde. Zwischen den Häuserreihen ein großer grüner Fleck, eine Wiese - nur wenige hundert Meter von der Hauptstraße, auf der sich der lärmende Feierabendverkehr in bester Slalommanier an den seitlich geparkten Autos vorbeischiebt. Auf der Wiese steht ein einsames Gewächshaus, dessen Türe sich geräuschlos öffnen lässt. Kein Schild, keine Tafel, keine Leuchtreklame erklärt, was hier gezüchtet wird. Die Gärtnerei birgt ein Geheimnis: Fleischfresser!
Drinnen, in einem unerwartet hohen Raum, herrscht Stille. Nur ein altes Radio dudelt leise vor sich hin. Graue Metallgestelle versperren die Sicht auf das kleine Büro am Ende der Halle. Sonst ist nichts und niemand zu sehen. Sekunden später schlendert Thomas Carow um die Ecke. Er kommt gerade aus einem seiner drei Gewächshäuser, die wie Schläuche vom Hauptraum abzweigen. In ihnen stehen, liegen und hängen Abertausende von exotischen Pflanzen. Ein richtiger Urwald - mitten in Nüdlingen.
Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass es sich nicht um Veilchen oder Geranien handelt, sondern um Fleisch fressende Pflanzen, so genannte Insectivoren. Wobei die Bezeichnung Pflanze übertrieben wirkt. Die meisten Arten, wie die berühmt-berüchtigte Venusfliegenfalle oder der Sonnentau, erreichen gerade einmal Fingergröße. Mit den Monstern aus schlechten Hollywoodfilmen hat das nichts zu tun.
Thomas Carow lächelt wissend und ein wenig verständnislos, wenn er auf die geläufigen Vorurteile über seine "Schützlinge" angesprochen wird. Schon oft musste er ein paar wichtige Dinge richtig stellen. Denn die grazilen Moorgewächse sind weder bissig noch für Menschen gefährlich. Eher umgekehrt. Mittlerweile sind viele der weltweit etwa 500 Arten vom Aussterben bedroht. Die Vernichtung ihrer Lebensräume und intensives Sammeln setzt ihnen immer stärker zu.
Der studierte Diplom-Ingenieur mit Fachrichtung Gartenbau redet leidenschaftlich gern über sein Hobby, dass er vor 20 Jahren zum Beruf machen konnte. Damals war seine Spezialgärtnerei, die er zusammen mit Uwe Wrono betreibt, einmalig in Europa. Seine Insectivoren finden reißenden Absatz, so dass Carow heute auf einer Fläche von 700 Quadratmetern 120 Arten kultiviert. "Vor 25 Jahren habe ich meine ersten Pflanzen in meiner Studentenbude noch unter dem Bett gezüchtet", schmunzelt der 45-Jährige.
Mittlerweile beschäftigt sein Betrieb acht Mitarbeiter. Die drei Außendienstler sind fast die ganze Woche auf Achse - quer durch Deutschland. Carow beliefert 350 Gartencenter in der ganzen Republik - sein Hauptgeschäft. Nur etwa drei bis vier Prozent der Pflanzen, so schätzt er, gelangt über den Raritäten-Versandhandel zu den Kunden in aller Welt. In zwei Tagen nach Australien - kein Problem.
Mit einer Engelsgeduld erklärt Carow die drei verschiedenartigen Fangmechanismen: die Fallgruben der nach Honig duftenden Schlauchpflanze, die Klebfallen des Sonnentaus und die Klappfalle der Venusfliegenfalle. Die Mücken und Spinnchen, die derweil munter überall im Gewächshaus umherkrabbeln, stört das herzlich wenig. Von ihrem bevorstehenden Schicksal ahnen sie noch nichts.
Schnapp! Eine Venusfliegenfalle, Carows absoluter Verkaufsschlager, hat wieder zugeschlagen. Diesmal erwischt es den Experten höchstselbst, als er die Funktionsweise ihrer borstigen Blätter demonstriert. Weh tut das nicht, nicht einmal ein Zwicken kann man dabei verspüren, weiß er zu berichten.
Nach einer Weile öffnet sich die "Diva" wieder - ganz gemächlich. Carow zieht die Klappfalle einer anderen Venus auseinander. Drinnen liegt eine halbverdaute Fliege in einer schleimigen Flüssigkeit. Wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben.
Die kleinen Feinschmecker aus dem Kuriositätenkabinett der Natur begeisterten schon Charles Darwin, der sich als einer der ersten namhaften Botaniker eingehend mit ihnen beschäftigte. 1875 veröffentlichte er das Standardwerk "Insektivorous Plants". Deutsche Forscher taten sich lange Zeit schwer mit der Existenz von Fleisch fressenden Pflanzen. Eduard Regel, Direktor des Botanischen Gartens in St. Petersburg, hoffte im selben Jahr, dass der Verstand Darwins Theorie "bald wieder in den Kasten des wissenschaftlichen Plunders werfen wird." Er hatte sich getäuscht.
Pflanzen, die Insekten fangen und verdauen können, regten zu allen Zeiten die Fantasie der Menschen an. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts häuften sich schließlich Horrorgeschichten über menschenfressende Bäume und Todesblüten. Authentisch klingende Expeditionsberichte von vermeintlichen Forschern vermittelten ein völlig falsches Bild von Fleisch fressenden Pflanzen, das sich bis heute in den Köpfen festgesetzt hat. Dabei fangen die Insectivoren gerade einmal zwei bis drei Fliegen - im Jahr. Deren Nährstoffe brauchen sie zum Wachsen oder zur Samenbildung. Wenn sie ihre Nährstoffe aus dem Boden aufnehmen können, können sie auf das Fliegenfleisch auch verzichten.
Carow redet wie ein Wasserfall. Über sein Lieblingsthema weiß er unheimlich viel. Kein Wunder, ist er doch ein weltweit anerkannter Experte für Insectivoren. Er nimmt an Konferenzen teil, verfasst Fachbücher und bringt von seinen Reisen oft noch unbekannte Exemplare mit nach Deutschland. "Ich hätte heute wahrscheinlich Probleme ein Veilchen oder eine Geranie zu kultivieren", untertreibt er gewaltig und schaut dabei etwas verlegen zu Boden.
Im Vorwort seines Buches "Fleischfressende Pflanzen", das mittlerweile in der 15. Auflage erschienen ist, heißt es: "Diese Broschüre soll die Sensationslust durch Faszination ersetzen." Ein Wunsch, der Carow am Herzen liegt. Während die Venusfliegenfalle ihr Opfer weiter verdaut - übrigens mit den selben Enzymen, die auch in unserem Magen vorkommen - lärmt der Feierabendverkehr, der sich durch Nüdlingen drängt, immer lauter. An Feierabend mag Thomas Carow jetzt noch nicht denken. Er muss noch Pflanzen für den Versand einpacken.