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Die Stasi war überall

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Die Stasi war überall

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    Es waren nicht die Gefühle des Eingesperrtseins, sagt Katrin Vollert, „wir konnten ja reisen“ – innerhalb der DDR, in die Tschechoslowakei ohne Visum, nach Polen, Ungarn oder Russland mit Visum. Nur nicht in Länder mit „nichtsozialistischen Wirtschaftssystemen“. Trotzdem verließ sie am 3. Oktober vor 20 Jahren auf dramatische Weise die Deutsche Demokratische Republik. Für immer. Heute lebt sie in Ramsthal.

    Für die Eltern war das anders gewesen. Diese Generation fühlte sich durchaus eingesperrt, die Familienbande waren zerrissen, die getrennte Zeit war nicht mehr nachholbar. Eigentlich hatte die Familie sich nach dem Krieg in Lüneburg niederlassen wollen, aber der Opa ging aus Neuruppin nicht weg. Beim Mauerbau war die Mutter hochschwanger mit dem älteren Bruder gewesen. Da war Lüneburg als Möglichkeit vorbei.

    „Meine Kindheit empfand ich als ganz okay“, sagt Katrin. Während der Schulzeit habe sie jedoch angefangen, sich Fragen zu stellen und diese auch laut gestellt, beispielsweise im Staatsbürgerkunde-Unterricht. Katrin Vollert machte ihr Abitur, einen Studienplatz aber bekam sie nicht. „Ich hätte so gerne Sport studiert“, bedauert sie rückblickend. Die Aufnahmeprüfung hatte sie auch bestanden, aber „die (die das Sagen hatten) waren wohl von meiner Staatstreue nicht überzeugt, zumal ich nicht in die Partei eintreten wollte“.

    Über Beziehungen durch die Mutter bekam sie einen Ausbildungsplatz als Krankenschwester. „Was erst einmal schrecklich war. Das Arbeitsgebiet war mir am Anfang sehr schwer zugänglich.“ Im Fachschulstudium bekam sie im ersten Semester zweimal die Note vier, aber dann erkannte sie ihre Chancen und entwickelte den Ehrgeiz, der sie zu einer guten Krankenschwester werden ließ.

    Die gesellschaftliche Stimmung und die wirtschaftliche Situation des Landes waren im Niedergang schon sehr weit unten angelangt, erinnert sich Katrin. „Die Kirche wurde komplett unterdrückt, für Christen gab es keinen Platz im System.“ Ihr Bruder war noch getauft, Katrin nicht mehr. „Am Heiligabend gab es aber Kerzen in den Fenstern, das war eine gebräuchliche Art des Protests gewesen.“

    „Die Stasi war überall“, erinnert sich Katrin. Am Heiligabend in der Kirche, und manchmal begleitete sie Katrin auch auf ihrem Arbeitsweg. „Das war eigentlich das Schlimmste, dieses Eindringen in die Privatsphäre.“ Das Zweitschlimmste war für sie das Misstrauen, dass man nicht wusste, wer zu den Spitzeln gehörte. Weil sie einen Freund hatte, der verwandtschaftliche Beziehungen nach Westberlin hatte, war Katrin auch im Visier der Stasi. Noch heute empört sie sich darüber. „Ich hatte doch nichts getan.“

    Doch dann geschah etwas. Eine Freundin verliebte sich in einen Westdeutschen, dessen Familie einen Unfall auf der Transitstrecke hatte. Der Sohn war wochenlang nicht transportfähig, der Vater kam, sah und liebte die Freundin, und so wurde Katrin eingeweiht in Fluchtpläne und schließlich auch aktiv bei der Fluchthilfe tätig. „Wir waren beide schon eine zeitlang im Visier der Stasi, da führten wir unsere Gespräche fast nur noch im Auto irgendwo im Wald bei laufendem Radio, so war das damals.“ Die Flucht der Freundin wurde organisiert über eine der Transitstrecken, die nicht so streng überprüft wurden, und sie gelang. Die beste Freundin war im Westen, in Hamburg.

    „Es war die Entscheidung, alles zurückzulassen, die Eltern, die Familie, das Zuhause, und all das mit dem Gedanken, nie mehr wieder zurückkommen zu können.“ Bei Katrin Vollert sollte es noch etwas dauern. 1988 war sie fertig mit ihrer Ausbildung als Krankenschwester, 1989 heiratet sie. Die Unzufriedenheit wuchs. Die Heirat war eine Möglichkeit, aus der Verpflichtung herauszukommen, für weitere drei Jahre an diesem Arbeitsplatz zu bleiben. So zog Katrin um nach Henningsdorf bei Berlin zum Ehemann und seinen Eltern.

    „Da mussten wir warten, bis uns eine Zweiraum-Wohnung zugewiesen wurde.“ Es gab hässliche, kalte Altbauwohnungen oder Neubauwohnungen. „Aber wir hätten eh nehmen müssen, was wir kriegen.“ Katrin lacht immer noch mit Staunen über diese Lebensbedingungen des ostdeutschen Sozialismus. Das sei heute alles so unvorstellbar, hier im warmen und farbenfrohen Wohnzimmer.

    In Ostberlin gab es öffentliche Telefonzellen, von denen man in manche westdeutsche Großstädte telefonieren konnte. „Das wurde natürlich alles abgehört.“ Trotzdem telefonierte Katrin ab und zu mit der Freundin im Westen. In diesen Wochen 1989, in denen sich der Untergang des DDR-Staates langsam zusammenbraute und viele sich schon auf den Weg in den Westen gemacht hatten, fragten manche Kollegen: „Warum bist denn du noch da?“ Aber eine solche Entscheidung treffe man halt nicht so leichtfertig – nirgendwo. Doch eine Gewissheit setzte sich im Freundeskreis immer klarer fest: „Wir haben doch alle keine Zukunft hier.“

    Auf einer Party sieht Katrin dann im Fernseher, wie eine Freundin in Prag über den Zaun der Deutschen Botschaft klettert. Dann hört sie, wie Hans-Dietrich Genscher vom Balkon des Prager Botschaftsgebäudes verkündet, dass die Ausreise der Flüchtlinge in den Westen möglich gemacht wurde. Das war am Samstag, 30. September. Da beschließt sie mit ihrem Mann und zwei Freunden die Flucht.

    „Wir sind am nächsten Abend losgefahren.“ Mit dem Trabi durch die Dunkelheit auf dem Weg ins Ungewisse. Kurz vor der tschechischen Grenze dann das rote Licht einer Straßenkontrolle. „Wir hatten auf der Fahrt das Radio immer wieder verstellt, es war ja verboten, Westradio zu hören.“ Dem Kontrollposten erzählten sie, dass sie zum Starkbierfest nach Pilsen unterwegs seien. „Da wurde uns erst einmal das Auto auseinandergelegt.“ Bis auf einen Schlafsack fanden sie nichts. In der Nacht zum 1. Oktober kamen die vier dann an die tschechische Grenze. „Was ich dabeihatte, war mein Versicherungsschein, mein Personalausweis und mein Teilnahmeheft an der DDR-Feriengestaltung.“ Katrin Vollert hat dieses Relikt der DDR-Bürokratie, die genauestens auch die Aktivitäten in den Schulferien aufzeichnete, bis heute aufbewahrt. Zeugnisse wollte sie nicht mitnehmen, das wäre zu gefährlich gewesen, daran hätte man die Flucht erkennen können.

    An der tschechischen Grenze mussten sich die Vier ein Visum ausstellen lassen für das visumfreie Land – „neueste Verordnung!“ Und an der Grenze begann dann das ganze Prozedere vom auseinandergenommenen Auto von vorne. Aus den Westgeldscheinen hatte Katrin die Silberstreifen herausgetrennt, damit beim Durchleuchten nichts zu finden wäre. Es brauchte wirklich nicht viel damals, um verhaftet zu werden.

    Gute Nerven brauchte man. „Wir sind dann durchgelassen worden. Am Montagmorgen kamen wir in Prag an. Das Auto stellten wir ab, mit unseren Rucksäckle gingen wir zum Botschaftsgelände. Ganz Prag stand voller Trabis und Wartburgs. Über den Zaun mussten wir nicht mehr klettern. Wir mussten noch zwei Tage warten. Da hing eine Uhr an der Mauer, der schaute ich oft zu.“

    Katrin zeigt ihren Aufnahmeschein, dort ist vermerkt: Am 3. Oktober hat sie die DDR verlassen. Tausende DDR-Bürger warteten in und an der Deutschen Botschaft. Die sanitären Bedingungen innerhalb der Botschaft seien zeitweise katastrophal gewesen. Und außerhalb, wo Katrin mit ihrem Mann und ihren Freunden wartete, war es nicht besser. Aus der Botschaft hatten sie Pferdedecken bekommen für die Nacht. „Saukalt war es.“ Sehr viele Tschechen hätten sich solidarisch gezeigt und geholfen. „Da war ich mir sicher, dass wir gut da raus kommen.“

    Dann trafen die Busse ein, die die vielen Menschen zum Bahnhof bringen sollten. Katrin sieht den Weg durch das schmale Gässchen hinunter zur Moldau noch heute vor sich, die Fahrt über die Brücke, die langen Reihen von Soldaten, die Schulter an Schulter die Straße säumten. Einer winkt ihr unauffällig zum Abschied.

    Schlimm war dann die Tatsache, noch einmal in die DDR zurück zu müssen. Der direkte Weg nach Hof wäre zwar nicht weit gewesen, aber die DDR-Obrigkeit wollte, dass die Züge über die DDR in den Westen fahren. Angeblich, um das Ausreiseprozedere ordnungsgemäß abwickeln zu können. „Wir hatten alle Angst, dass da noch was passieren könnte.“

    Der Zug fuhr sehr langsam. Zigmal hielt er an. In Dresden am Hauptbahnhof war etwas geschehen. Erst später erfuhren sie, dass das Bahnhofsgelände abgeriegelt worden war. Bis zu 20 000 Menschen hatten sich dort versammelt und wollten noch auf den Zug aufspringen. Einige sollen es geschafft haben. Am frühen Morgen dann die Ankunft in Hof. Presse, Funk und Fernsehen warteten am Bahnsteig, wollten Interviews. „Ich sagte nichts, ich war müde.“ Die Vier wurden in andere Züge verfrachtet, nach Alsfeld in Hessen. Katrin rief dort ihre Freundin in Hamburg an, die sie sofort abholte.

    Eine zeitlang lebte Katrin mit ihrem Mann in Norddeutschland und in Nordrheinwestfalen. 1990 kamen die Eltern das erste Mal zu Besuch. 1992 bekam sie in Bad Neustadt im Rhönklinikum einen Arbeitsplatz. 1994 wurde Sohn Willi geboren, und 1998 trennte sie sich von ihrem Mann. Die Ehe hatte den vielen Umbrüchen nicht standgehalten.

    Beim Wasserski in Thulba lernte sie Jürgen Vollert kennen, den sie zwei Jahre später heiratete. Wieder ein Wandel, der diesmal zu einem Ankommen, einem Nach-Hause-Kommen wird. Seit dem Jahr 2000 lebt die Familie in Ramsthal und ist hier gut integriert. Sowohl in der Bücherei als auch im Sportverein engagierte Katrin sich, wurde Mitglied beim Eigenheimerverein, im Fideliaverein, in der Vereinsgemeinschaft und im Dettelbach-Wallfahrtsverein. Im Sportverein ist sie inzwischen auch als stellvertretende Vorsitzende aktiv. Gegenwärtig arbeitet Katrin Vollert an den Vorbereitungen für den ersten Saaletal-Marathon, der am 27. März 2010 startet. „Ja, das ist jetzt mein Zuhause geworden“, sagt Katrin zufrieden.

    Im Jahr 2007 war sie mit ihrem Ehemann nach Prag gefahren, um diesen Ort ihrer Geschichte noch einmal wiederzusehen. „Damals war der Zaun nicht so hoch. Die Skulptur eines Trabis mit vier Beinen steht dort, als Erinnerung. Aber ich weiß noch, wie es war, ich weiß alles noch ganz genau.“

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