Im zweiten Stock des Hauses von Julius Rossmann in der Bismarckstraße Nr. 4 neben der heutigen Stadtbücherei lebte Moritz Katzmann mit seiner Familie. Der 1880 in Geroda in der Rhön geborene Weinhändler heiratete 1910 die 25-jährige Kitzingerin Laura Rosenbusch aus der Herrnstraße. Das Ehepaar hatte drei Kinder. Der älteste, 1911 geborene Sohn Martin, der uns schon auf dem Klassenbild der Realschule begegnet ist, wurde später nervenkrank. Die von der Mutterseite vererbte Krankheit kam in den 30-er Jahren zum Ausbruch, und war wahrscheinlich auch durch die schrecklichen Verhältnisse jener Jahre bedingt.
Martin lebte später, wie auch seine Mutter, in der jüdischen Nervenklinik Sayn bei Koblenz, von wo die beiden im Jahr 1942 nach Izbica und von da wohl ins Vernichtungslager Belzec deportiert und ermordet wurden. Auch der Vater Moritz wurde im März 1942 mit dem zweiten Sohn Gerhard von Kitzingen aus ebenfalls nach Izbica deportiert und in Belzec ermordet. Gerhard erkrankte noch als Halbwüchsiger an Kinderlähmung. Im Gestapo-Archiv des Staatsarchivs Würzburg findet sich in der Akte seines Vaters der Hinweis: "Gerhard Katzmann (ist) infolge der Lähmung beider Beine nicht in der Lage, Gepäck zu tragen."
"Judenhaus"
Das Haus Nr. 4 gehörte dem Vieh- und Pferdehändler Julius Rossmann, einem gebürtigen Wiesenbronner, dessen jüngerer Bruder Jacob in der Moltkestraße wohnte. Julius ging mit seiner zweiten Frau Hermine, geb. Stein aus Messelhausen bei Darmstadt, im Jahr 1940 nach Amerika. Die erste Gattin Julie, geb. Einstein, verstarb 1927 und ist im Rödelseer Judenfriedhof beerdigt.
Julius Rossmann hatte von seiner ersten Frau zwei Kinder, die beide rechtzeitig Deutschland verlassen konnten und ebenfalls nach Amerika auswanderten. Karl, der später in Buffalo, im Staat New York, lebte, wird im amerikanischen "Who is who" erwähnt, einer Anthologie bekannter, amerikanischer Persönlichkeiten. Seine Schwester Lucie, verheiratete Kahn, lebt in Riverdale (New York), in demselben Haus wie ihr Kitzinger Jugendfreund Ludwig Hahn aus der Bahnhofstraße.
Neben der Bismarckstraße 4, im Haus Hindenburgring Süd 1 lebten die Familien Charon, Schlössinger und Katzmann. Der 1889 wie seine Brüder in Geroda geborene Max Katzmann war in den letzten Jahren der jüdischen Gemeinde Kitzingen nach der Auswanderung von Rabbiner Wohlgemuth sozusagen ihr geistiges und geistliches Oberhaupt, da er gelernter Religionslehrer war, der seine Ausbildung am berühmten israelitischen Lehrerbildungsseminar in Würzburg absolviert hatte.
Seine Gattin Bella, geborene Kellermann-Charon, war die Adoptivtochter von Emanuel Charon und seiner Gattin Clara, geb. Friedlein, aus Allersheim. Clara Charon war die beste Freundin von Frau Rabbiner Wohlgemuth und lebte mit ihr zusammen in einem Zimmer des jüdischen Gemeindehauses, nachdem auch die Charons aus ihrem Haus am Hindenburgring Süd vertrieben wurden. Später zog Frau Charon nach Würzburg, wo sie im jüdischen Altersheim verstarb und im Würzburger Judenfriedhof an der Siemensstraße beerdigt wurde. Sie war Mitglied in der Beerdigungsgesellschaft der Kitzinger jüdischen Frauen und steht auf dem Gruppenbild als vierte von links in der hinteren Reihe neben ihrer Freundin Luise Wohlgemuth, geborene Ichenhäuser.
Für manchen mag es verwunderlich sein, dass niemand der Familie Katzmann, die so sehr in Gemeindeangelegenheiten engagiert ar, auf dem Gruppenbild der Beerdigungsgesellschaft der Kitzinger jüdischen Frauen erscheint. Doch dies hat einen Grund: Die Katzmanns waren Cohanim, das heißt sie waren Nachkommen von Aron, des Aron aus der Biblischen Geschichte, der als Bruder von Moses der erste Hohepriester des jüdischen Volkes war.
Die Cohanim waren die Priester im Tempel in Jerusalem, und als der Tempel 70 nach der heutigen Zeitrechnung von den Römern zerstört wurde, wurden die Cohanim sozusagen arbeitslos, doch ihre "Amtsbezeichnung" wird bis zum heutigen Tag weiterhin in der männlichen Linie vererbt. Ihre "cohenische" Zugehörigkeit beinhaltet auch gewisse Vorrechte und Verbote, die für religiöse Juden wie die Katzmanns bindend waren.
Dazu gehörte, dass man sich nicht an einem toten Körper rituell verunreinigen durfte, das heißt man ging nur bei Bestattungen nächster Angehöriger auf den Friedhof, und natürlich konnte man dann auch nicht Mitglied der Beerdigungsgemeinschaft sein, deren Hauptzweck die den religiösen Bestimmungen und Bräuchen gemäße Leichenwäsche und Bestattung der Toten war. Andere Kitzinger Cohanim-Familien waren die Kahners, die Kahns und die Bauers.
Ende April 1938 kam Familie Schlössinger aus Thüngen bei Würzburg nach Kitzingen. Frau Schlössinger war eine geborene Katzmann, und heiratete im Jahr 1923 Moses Schlössinger aus Neckarzimmern. Die 1886 ebenfalls in Geroda geborene Klara Schlössinger geb. Katzmann hatte von einer Tante in Thüngen ein Häuschen geerbt, und zog mit ihrem vier Jahre jüngeren Mann Moses dorthin. Moses Schlössinger besaß in Mosbach in Baden ein Manufakturwarengeschäft und eröffnete nach seiner Heirat in Thüngen einen Handel mit Ölen, Fetten und Fellen, welchen er bis Oktober 1938 in dem Ort betrieb. Während der "Kristallnacht" lebten die Schlössingers noch in Thüngen, und die Verschlimmerung der Verhältnisse in jener Zeit mag dazu geführt haben, dass die Familie zu den Verwandten der Frau nach Kitzingen zog.
Die Schlössingers waren keine reichen Leute. Frau Schlössinger arbeitete in Kitzingen in verschiedenen Kitzinger Haushalten, wie bei Helene Klugmann in der Moltkestraße, der 1927 geborene Sohn Günther wird in seinem Abschlusszeugnis der jüdischen Volksschule im Jahr 1941 vom letzten Kitzinger jüdischen Lehrer Siegbert Friedmann als ein braver Schüler bezeichnet, dessen Hilfsbereitschaft besondere Anerkennung verdient. Dem Vater Moses haben seine ganzen Verdienste und auch die Orden nicht geholfen, die er als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges erhielt, denn auch diese Familie wurde am 23. März 1942 von Kitzingen aus nach Izbica bei Lublin deportiert und ein Opfer der Schoah.
Ehrenkreuz
Auch ein anderer Bewohner des Hauses Hindenburgring Süd Nr. 1 hatte sich viel auf seine Verdienste um das deutsche Volk während des Ersten Weltkrieges zu gute gehalten: Der Schwager von Clara Charon, der 1878 in Rödelsee geborene ledige Adolf Charon war mit dem Militärverdienstkreuz 3. Klasse mit Schwertern, mit der Kriegsgedenkmünze 1914/18 des Kyffhäuser-Bundes und dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer ausgezeichnet worden. Er trug ein Monokel und Stefan Rothstein hat erzählt, dass Adolf Charon immer sehr laut gelacht hatte.
Er schien eine sehr martialische Erscheinung gewesen zu sein, und damit hat er wohl, wie übrigens sehr viele andere Kitzinger Juden auch, so gar nicht dem antisemitischen Klischee der Nazis entsprochen. Geholfen hatte dies nichts. Auch er musste am 23. März 1942 die Reise ohne Wiederkehr antreten. Der Kyffhäuser-Bund war eine rechte monarchistische Vereinigung und die heutige Jugend würde sie eher in einen etwas anderen Zusammenhang stellen.
Nach 1938 wurde das Haus der Charons "arisiert" und die Bewohner wurden auf die verschiedenen Kitzinger Judenhäuser verteilt, die man damals eingerichtet hatte: Adolf Charon musste in die Landwehrstraße 21, Max Katzmann mit seiner Frau in die Landwehrstraße 23. Beide Hausnummern gehörten zum jüdischen Gemeindehaus, dem heutigen Museum der Stadt Kitzingen, die Familie des Moses Schlössinger wurde in die Luitpoldstraße 14 einquartiert, die heutige Volksbank.
"Meefischli"
Heute befindet sich in dem Anwesen Hindenburgring Süd Nr. 1 ein Kellerlokal in den ehemaligen Weinkellern des Emanuel und des Adolf Charon. Wenn die Tageszeit und die Umstände es erlauben, habe ich bisher bei Führungen durchs jüdische Kitzingen auch Station in diesem Lokal gemacht, um den Teilnehmern den Weinkeller einer mittelgroßen Kitzinger Weinhandlung zu zeigen. Und manch einer aß dann Meefischli - Meefischli in Carons Keller, eine der letzten koscheren Mahlzeiten, die für Kitzinger Juden möglich warn, bevor sie im Jahr 1942 ermordet wurden.