I - n Freiheit liegt die Lebenserwartung von Mäusen bei etwa 18 Monaten. So betrachtet, hat diese Maus ein biblisches Alter erreicht: Mickey Mouse feiert ihren 75. Geburtstag. Was bei ihrem Lebenswandel und den vielen stressigen Abenteuern arg verwundern darf. Mickey stammt von einem glücklichen Kaninchen ab - von "Oswald the Lucky Rabbit", das in den 20er-Jahren in den tierbefallenen Studios eines gewissen Walt Disney gezüchtet und auf Zelluloid gebannt wurde. Was einst eine Kugel und zwei lange Ohren hatte, wurde durch zahlreiche Feldversuche zu einer Maus. Zwar kreuzten sich die Wege von Mensch und Maus schon 8000 vor Christus, als unsere Ahnen begannen, Wildgräser zu kultivieren, eine Nahrungsquelle für Mensch und eben Maus - doch keine ihrer Art hat solch nachhaltigen Eindruck hinterlassen wie Mickey Mouse alias (auf Deutsch) Micky Maus.
Mickey soll auf einer Eisenbahnfahrt gezeugt worden sein. Der 27-jährige Zeichner und Trickfilmmacher Walt Disney war auf dem Rückweg von New York nach Kalifornien, wo er schmerzhaft erfahren musste, dass sein Verleiher die erfolgreichen Oswald-Zeichentrickfilme zukünftig ohne ihn machen wollte. Auf der Höhe von Kansas City ereilte Disney die Idee mit der Maus. Mortimer sollte der kleine Winzling eigentlich heißen. Doch Disneys Ehefrau Lilian kam eine bessere Idee: Mickey. Zwar hatte schon 1921 die Frauenzeitschrift "The Good Housekeeping" eine Geschichte mit Mäusen namens Mickey und Minnie Mouse veröffentlicht - weltweit bekannt wurden aber Disneys unverwechselbare Geschöpfe. Nicht nur er allein zeichnete dafür verantwortlich. Sein Studiopartner, Up Iwerks, hatte maßgeblichen Anteil. Er war es, der Mickey seine Form gab.
18. November 1928 - für Mickey ein besonderer Tag, sein erster offizieller Geburtstag. An jenem Sonntag gab er sein Debüt auf der Kino-Leinwand. "Steamboat Willie" hatte im New Yorker Filmtheater "Colony" Premiere. Der Streifen begeisterte die Zuschauer, auch, weil der kleine gezeichnete Held dank der gerade ein Jahr alten Technik des Tonfilms sprechen und pfeifen konnte. "Steamboat Willie" war eigentlich bereits der dritte Film mit dem Mäuserich, doch für die beiden vorangegangenen Werke fand Walt Disney einfach keine Vertriebsmöglichkeit.
Wohl dem, der niemals aufgibt, eine überaus "mausige" Tugend. Von nun an ging es rasant voran. Schnell wurde der Frechdachs zum Shooting-Star. Für Mickey hatte das goldene Zeitalter begonnen, und auch seine Väter durften sich fortan fühlen wie Mäuse im Speck. Bereits 1929 setzte das fidele Kerlchen zum großen Sprung über den Atlantik an - und landete zunächst in England. Dort wurde die Erfolgsstory fortgeschrieben. Mickey war nicht mehr aufzuhalten.
In Deutschland wurde er im gleichen Jahr erstmals umtriebig, allerdings für heimische Augen versteckt. In Nürnberg begann die Firma Johann Distler Spielzeug mit der fidelen Maus herzustellen. Doch die in Blech gestanzten, beweglichen Figuren traten sofort den Weg ins heimatliche Amerika an, um ausschließlich dort über den Ladentisch zu gehen.
1930 hatten fast 470 Millionen Zuschauer Mickeys Filme in den Kinos gesehen, meistens als Beiprogramm. Im Januar hatte der erste Film die Bundesprüfstelle in Berlin passiert. Die begleitende Werbung riet: "Alle Tonfilmtheater werden gut daran tun, sich schnellstens für Micky zu interessieren. Micky wird der Liebling des Publikums werden." Wie wahr - das Echo auf Mick(e)ys Abenteuer fiel ohrenbetäubend aus. Doch nicht nur dunkle Kinosäle waren fortan beliebte Aufenthaltsorte des Mäuserichs, schnell bemächtigte er sich Produkten aller Art. Am 13. Januar 1930 erschien der erste Comicstrip mit Mickey Mouse in amerikanischen Tageszeitungen. Sein Bild verzierte Eierbecher, Zahnbürsten, Tapeten, Taschentücher, Kleiderstoffe, Uhren, Aschenbecher. Die Produktpalette reichte vom Wegwerf-Spielzeug bis zum teuren Cartier-Schmuck mit Gold, Platin und Diamanten.
1931 wurde, von Kinobetreibern initiiert, der erste "Mickey Mouse Club" in Amerika gegründet. Schnell hatte er über eine Million meist jüngere Mitglieder. Stilecht dazu gab es Clubausweise, eine Zeitschrift und sogar einen eigenen Song. Die Kinder sollten dabei auch zu patriotischen und moralisch aufrechten kleinen Bürgern erzogen werden und Respekt gegenüber den Älteren, Jüngeren und Schwächeren an den Tag legen. Bei den Filmvorführungen schworen sich die Clubmitglieder ein mit Sätzen wie: "Micky Mäuse fluchen, rauchen, betrügen und lügen nicht." Kein Wunder, dass die Ur-Maus mit ihrem Benehmen bald kein Vorbild mehr war für die Jugend. In ihren Flegeljahren war die kleine Maus nämlich alles andere als ein Waisenknabe. Sie konnte geradezu anarchistisch, gewalttätig und voll gestopft mit derbem Humor herumtollen.
Prompt geriet sie ins Visier der einflussreichen amerikanischen Hausfrauenvereinigungen. In einem Mickey-Film bemängelten die strengen Sittenwächterinnen, dass eine Kuh mit sehr strammen Eutern und tiefer, aufreizender Stimme muhte. Kein Problem: Walt Disney verpasste der Kuh im nächsten Film einen Euterhalter und ließ sie mit Engelsstimme muhen. Disney selbst lieh bis 1946 seinem Hauptdarsteller die hohe Falsett-Stimme.
Leider sind heutzutage die frühesten Disney-Filme praktisch nicht mehr zu sehen. Mit ihrer Derbheit und ihren Horrorszenen passen sie wohl nicht mehr ins Bild des zum Weltkonzern aufgestiegenen Imperiums der Walt Disney Productions. Mickeys rattenhaftes Aussehen verschwand, er erhielt Schuhe, Handschuhe und Tortenaugen mit kleinen Einschnitten. 1938 bekam er Pupillen und trug wie Erwachsene fortan lange Hosen.
Bis heute begeistern Mickey und seine Kumpane vor allem in Comic-Heften, wenn auch sein Imagewandel zum superguten, brav-souveränen Mäuserich ihm einiges eingebrockt hat. Sein cholerischer Kollege Donald Duck hat ihm - was die Beliebtheit angeht - längst den Rang abgelaufen. So ist es eben im Leben: Ein Enterich, dem vieles misslingt und der so herrlich "menschelt", trifft den Zeitgeist eben besser.
Dennoch: Mickey ist und bleibt die berühmteste Maus der Welt, und sie wird mit Sicherheit auch 100. Geburtstag feiern. Da beißt die Maus keinen Faden ab.