Henning Scherf wird am 31. Oktober 79 Jahre alt. Das ist nichts Ungewöhnliches. Doch der ehemalige Bremer Bürgermeister sagt, er fühle sich wie 50 – und so, als könne er Bäume ausreißen. Am Montag war er in Karlstadt und hielt einen Vortrag über gelungenes Leben im Alter. Bezeichnend ist seine Umtriebigkeit. Das reicht vom Bestsellerautor bis zum Schirmherr der Deutschen Stiftung für Demenzerkrankte. In einem Gespräch mit dieser Redaktion vertiefte er das Thema.
Frage: Wie alt wollen Sie werden?
Henning Scherf: Jetzt habe ich die Messlatte höher gelegt, mein Ziel ist 100. Früher hatte ich mir die 80 vorgenommen, aber das habe ich fast schon erreicht.
Gibt es ein Rezept fürs Altwerden bei geistiger und körperlicher Fitness?
Scherf: Ich bin Beiratsmitglied beim Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock und habe denen geraten: Untersucht doch mal die Biografien alter Menschen und fragt sie, wie sie das gemacht haben. Weltweit wurden 841 Personen, die über 110 Jahre sind, unter die Lupe genommen. Und es stellten sich zwei Dinge heraus: Erstens waren sie alle bis ins Alter nicht alleine. Und zweitens sagen sie alle: „Wir haben noch etwas zu tun, eine Aufgabe.“
Was sind das für Aufgaben?
Scherf: Das ist so, wie man das von früher von alten Bauersfrauen kennt: Die sitzen vor dem Haus und schälen Kartoffeln oder flicken etwas. Da kommt die Nachbarin vorbei und sagt: „Tach, Frau Meier, wie geht's?“ Die werden nicht nur bedient, sondern werden gebraucht und beteiligt. Übrigens: Wenn man die 90 erst einmal geschafft hat, dann verlangsamt sich das Altern.
Setzen Sie sich jetzt in Bremen vor Ihr Haus und schälen Kartoffeln?
Scherf: Ich bin vor zwölf Jahren aus der Politik ausgeschieden und habe überlegt: Was machst du jetzt? Ich bin keiner, der sich jeden Abend vor den Fernseher setzt und dann beim Spielfilm, den er sowieso schon drei Mal gesehen hat, einschläft. Später wechselt man dann ins Bett und wundert sich, dass man nicht schlafen kann. Das ist die „Falle Fernsehschlaf“.
Ihr Rezept stattdessen?
Scherf: Ich gehe ein- bis zweimal die Woche in eine Bremer Grundschule – in der übrigens mehr als 70 Prozent der Kinder nicht muttersprachlich Deutsch sprechen. Die Kinder mobilisieren mich. Die erzählen alles von zu Hause. Wenn das die Eltern wüssten. Es ist toll, wie schnell die Deutsch lernen.
Was machen Sie dort in der Schule?
Scherf: Wir sind mehr als 30 ehrenamtliche Alte, die sich mit den Kindern beschäftigen. Die einen helfen ihnen, Rad fahren oder schwimmen zu lernen. Ich lese vor. Dann frage ich, was sie verstanden haben. Und dann erkläre ich ihnen vieles. Wir haben da einen Schulgarten, wir kochen, es gibt Tiere. Die Grundschule ist eine der besten drei in Deutschland geworden. Und dazu haben die Alten beigetragen.
Das ist also ein Beispiel für Ihre Aktivität im Alter. Jetzt interessiert mich Ihr Mittel gegen das Alleinsein näher. Es ist bekannt, dass Sie in Bremen in einer Senioren-Wohngemeinschaft leben. Man sagt ihr auch nach, die berühmteste WG Deutschlands zu sein. Wie muss man sich das Haus konkret vorstellen?
Scherf: Das ist ein Haus von 1829, das wir völlig umgebaut haben. Es hat jetzt fünf Stockwerke.
Die rund 90 Quadratmeter pro Stockwerk haben wir sehr unterschiedlich unterteilt in Singlewohnungen, Ehepaarwohnungen und Gästewohnungen. Aber wir sind alle so miteinander verschachtelt, dass wir für Außenstehende wie ein Einfamilienhaus wirken. Wir sind zehn Personen, die in dem Haus leben.
Das ist also keine WG, wie man sie von Studenten kennt – mit einem gemeinsamen Bad und einer gemeinsamen Küche.
Scherf: Nein, jeder kann sich in seine Wohnung zurückziehen. Aber wir machen ganz viel gemeinsam. Das geht reihum. Jeder ist mal Gastgeber fürs Frühstück, wir spielen oder kochen gemeinsam. Wir feiern gemeinsam Geburtstage und Weihnachten. Wir lieben unseren Innenstadtgarten. Und wenn Gäste kommen, sind sie zu Gast bei allen. Wird einer von uns krank, wird er von den anderen selbstverständlich begleitet, versorgt und mitgenommen. Das war besonders gravierend, als wir unsere Sterbebegleitung gemacht haben. Wir haben über zwei Jahre eine Mitbewohnerin und anschließend fünf Jahre ihren Sohn in unserer Mitte gehalten und nie alleine gelassen. Ich habe auch in meiner Zeit, als ich noch in der Politik war, Nachtwache gemacht – auch wenn ich dabei geschlafen habe.
Welche Voraussetzungen muss jemand mitbringen, um in einer Wohngemeinschaft zu leben?
Scherf: Es gibt keine festen Regeln. Ich kenne wunderbare Gemeinschaftswohnprojekte, die von Handwerkern betrieben werden. Ich kenne welche, in denen nur arme Sozialhilfeempfängerinnen wohnen, alleinerziehende Frauen. Ich kenne Projekte, die mit türkischen oder anderen Migranten gestartet wurden.
Sie sprachen in Ihrem Vortrag davon, dass es in der WG auch Zoff gibt. Worum geht es da?
Scherf: Mein erstes Buch („Grau ist bunt“) war ein Jahr lang auf der Bestsellerliste des Spiegels und die Bildzeitung hat es als Fortsetzung abgedruckt. Ich finde, die haben das korrekt gemacht, auch die Bilder. Aber einer von uns ist völlig ausgeflippt, dass er mit seinem Wohnprojekt in der Bildzeitung abgedruckt ist. Das hat ihn so gekränkt. Er wollte nichts mehr von uns wissen. Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis er das verwunden hatte.
Und ein anderer Fall?
Scherf: Einer von meinen Freunden, der etwa gleichaltrig ist, hatte sich mit Anfang 60 verliebt in eine erwachsene Tochter aus dem Haus. Sie waren ein heimliches Pärchen. Als das bekannt wurde, hat der Vater verlangt, dass ich ihn rausschmeiße. Da habe ich gesagt: „Die ist erwachsen, die ist 22. Die kann entscheiden, was sie will. Du hast ein Problem.“ Seine Kränkung war eigentlich die noch nicht zu Ende gebrachte Ablösung der Tochter. Das ist dann auf die Reihe gebracht worden mit vielen Gesprächen.
1968 waren Sie 30. Hätten Sie damals mit jemanden wohnen wollen, der 70 ist?
Scherf: Wir haben schon 1960 eine Wohngemeinschaft aufgemacht bis 1963, als wir Examen hatten. Da waren auch Ältere dabei.
Was ist, wenn die WG weiter altert?
Scherf: Die Bremer Heimstiftung hat unser Haus angeguckt. Wir haben keine Schwellen und es ist barrierefrei. Wir haben einen Fahrstuhl. Zehn Personen mit der höchsten Pflegestufe könnten hier betreut werden. Wir haben auch nach den Kosten gefragt. Als wir 28 000 Euro pro Monat hörten, dachten wir erst, das geht nicht. Aber alle sind pflegeversichert und krankenversichert. Es würde am Ende knapp 1000 Euro pro Person kosten.
Aber es gibt Menschen, die nicht in eine WG wollen.
Scherf: Die Bereitschaft ist viel höher, als die meisten denken. Beim „Forum gemeinschaftliches Wohnen“ haben wir täglich 100 bis 150 Anfragen.
Dennoch sind in manchen Siedlungen Einfamilienhäuser mit nur einem Bewohner typisch.
Scherf: Früher waren da Familien. Dann sind die Kinder ausgezogen. Ich habe erlebt, dass die Nachbarn zwar nicht zusammenziehen, aber sich zusammentun und ein Haus gemeinsam finanzieren und dort eine Pflegekraft einstellen, die sich um die Versorgung der anderen kümmert. Dann können die in ihren Häusern bleiben.
Brauchen manche ein Schlüsselerlebnis, um sich zusammenzutun?
Scherf: Sobald die Angst beginnt, alleine zu sein, wenn die Leute mal nachts fallen und daliegen und keiner ist da, der ihnen aufhilft, da fängt es an: „Das darf mir nicht wieder passieren.“ Das erlebe ich überall, dass der lange gepflegte Satz „Ich ziehe nicht mit jemanden zusammen“ plötzlich wie in Kartenhaus zusammenfällt. Dann muss plötzlich etwas her. Viele Heime leben davon.
Wenn Sie tatsächlich 100 werden sollten, könnten dann nicht die guten Gene schuld sein?
Scherf: Nein, meine männlichen Vorfahren sind alle bald gestorben.