Rotkäppchen und der böse Wolf, das Märchen der Brüder Grimm, das 1812 erschienen ist, wandelte sich im Lauf der Jahrhunderte je nach aktuellem Zeitgeist. So gab es in den 1920er Jahren eine stark satirische Version von Joachim Ringelnatz, aber auch für rassistische und nationalsozialistische Zwecke wurde es missbraucht. Auch in der DDR erzählte man sich das „Märchen“ – unter der Hand als eine Form des Widerstands gegen das sozialistische System. Passend zur Sonderausstellung „Die sozialistische Schule der DDR“ im Lohrer Schulmuseum, die noch bis 25. Oktober zu sehen ist, hat Museumsleiter Eduard Stenger die Geschichte vom „Rotkäppchen, von neuem erzählt unter Voraussetzung sozialistischer Produktionsverhältnisse“ aufgeschrieben:
„Rotkäppchen war gerade dabei, ein frohes Jugendleben zu entfalten, da kehrte die Mutter von der Versammlung der Haus- und Hofgemeinschaft zurück. Sie begrüßte das Rotkäppchen mit der Losung Junger Pioniere*: „Bildet Timur-Trupps* (siehe Infobox) und helft unseren Parteiveteranen bei der verlustlosen Einbringung der Gartenernte!“ „Rotkäppchen“, sagte sie, „nimm in dein Aktionsprogramm auch einen Besuch bei der Großmutter, der verdienten Parteiveteranin, auf!
Überreiche ihr aus Anlass des 13. Jahrestages der Rentenerhöhung ein Stück Obstkuchen mit Schlagcreme und eine Weinflasche mit Faßbrause. Sie werden die Großmutter stärken zu guten Taten für den Sozialismus und im Kampf um die allseitige Durchsetzung der Neuerermethoden auf dem Gebiet einer kulturvollen Heimgestaltung. Weiche nicht vom Bitterfelder Weg* ab! Und wenn du durch den Wald gehst, ermahne dich zu erhöhter Wachsamkeit gegenüber den parteifeindlichen Umtrieben des bösen Wolfes. Seinen sektiererischen und dogmatischen Einflüsterungen, die vom Klassenfeind diktiert sind, darfst du nicht zum Opfer fallen. Vergiss nicht das blaue Halstuch* und die rote Kappe. Seid bereit!“*
„Immer bereit!“, antwortete etwas traurig das Rotkäppchen, denn es hätte gern weiter ein frohes Jugendleben entfaltet. Aber auf Grund der zehn Gebote der sozialistischen Moral und eines kämpferischen Klassenbewusstseins, schätzte es die Perspektiven seiner jugendlichen Entwicklung richtig ein und machte sich auf den Weg. Bei seiner Wanderung kam das Rotkäppchen an einer Wiese, die einen Überplanbestand schöner Blumen beinhaltete, vorbei. Rotkäppchen gelang es, diese ungenutzten Reserven aufzudecken und sie unter Geringhaltung der Ausschussquote für die Produktion eines Blumenstraußes zu erschließen.
Als das Rotkäppchen gerade dabei war, in sein Produktionsprogramm auch die Einführung einer Pausengymnastik aufzunehmen, erschien der böse Wolf. „Freundschaft“, sagte der Wolf, „was machst du hier?“ Rotkäppchen, das den Wolf nicht gleich identifizierte, antwortete: „Ich entwickle Initiative zum Besuch der Großmutter und versuche neue Wege zu beschreiten.“ „Lass uns eine Plandiskussion führen über einen komplexen Einsatz bei der Veteranin“, antwortete der Wolf. „Wir wollen als Kollektiv ein Aktionsprogramm erstellen.“ Noch im gleichen Augenblick wurde ihm ein Verbesserungsvorschlag bewusst. Er setzte den ökonomischen Hebel an und veränderte den Planentwurf dahin gehend, dass er im progressiven Vorgehen in Teilabschnitten erst die Großmutter und dann das Rotkäppchen seinen Versorgungsplänen einverleiben wollte. So verstieß er gegen die Richtlinien des Jugendförderungsplanes, und Rotkäppchen sah sich allein gelassen.
Kurz darauf stand der verbrecherische Wolf vor dem Wohnblock, in dem die Großmutter durch Beziehungen im Veteranenclub eine Parterrewohnung bekommen hatte. Eingedenk der Devise „Jeder Mann an jedem Ort – einmal in der Woche Sport“, sprang der Wolf durch das – entgegen den Vorschriften der Staatlichen Versicherung der DDR – offenstehende Fenster. Mit der kranken Großmutter ließ er sich auf keine Diskussion ein, sondern diktierte ihr unter Missachtung der Beratung durch die Führungsgremien einseitig seine Meinung, indem er sie einfach auffraß.
Danach versuchte der gefräßige Agent sich zu tarnen. Er zog Großmutters Nachthemd aus Dederon* an und legte sich mit dem Krankenschein der SVK* in der Pfote ins Bett. Nach einer kurzen Weile betrat auch das Rotkäppchen die AWG-Wohnung*. Als das Rotkäppchen die unrealistische Großmutter erblickte, erschrak es sehr. „Großmutter, warum hast du so große Augen?“ - „Ich habe eine Halbtagsbeschäftigung als Güterkontrolleur angenommen!“ „Aber Großmutter, warum hast du so große Ohren?“ - „Ich betätige mich als ehrenamtliche Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit!“ „Großmutter, warum hast du aber einen so großen Mund?“ – „Weißt du denn nicht, dass ich Chefkommentator beim demokratischen Rundfunk war?“ Der Wolf beendete die kämpferische Auseinandersetzung durch positive Überzeugungsarbeit, indem er auch das Rotkäppchen auffraß. Dann legte er sich schlafen und produzierte Schnarchtöne der Güteklasse „Q“ mit Weltniveau.
Mit einem „Spatz“* der Produktion vom VEB* Simson-Suhl kam auf der Suche nach einer Vertragswerkstatt ein Mitglied des Jagdkollektivs daher. Zufällig führte der Jäger seine Thälmann-Super-Flinte II. Wahl mit sich. Dem Wolf wurde es zum Verhängnis, dass er es an der nötigen Wachsamkeit hatte fehlen lassen. Mit Hilfe der Hinweise aus der Bevölkerung gelang es dem Jäger, den Wolf zu identifizieren und als Geheimagent der imperialistischen Ultras zu entlarven. Er realisierte die Tötung der scheußlichen Bestie und befreite das Rotkäppchen und die Großmutter aus dem Leib des bösen Wolfes.
Bevor sie den Tag der Befreiung mit Erstellung eines Kulturprogramms feierten, verfasste das Rotkäppchen einen Artikel für die „Junge Welt“*, mit dem es sich von seinem vertrauensseligen Versöhnlertum dem Wolf gegenüber distanzierte. Der Jäger hatte durch die Befreiung der Großmutter und des Rotkäppchens zwei Arbeitskräfte aus der nicht arbeitenden Bevölkerung zusätzlich erschlossen und damit einen Zuwachs des Volksvermögens um jährlich 2000,63 Mark erzielt. Er erhielt eine Prämie von 300 Mark. Und ihm wurde eine Aufbaustunde im Rahmen seiner Selbstverpflichtung in der VMI* angerechnet.
Die Großmutter zahlte freiwillig einen Betrag für die Volkssolidarität*, und das Rotkäppchen ließ sich von ihr die leere Weinflasche für die nächste Altstoffsammlung geben. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“
Begriffserklärungen
Junge Pioniere: sozialistische Kinderorganisation.
Timur-Trupps: Schülergruppen, die bei der Rentner- und Familienbetreuung mithalfen.
Bitterfelder Weg: 1959 initiierte kulturpolitische Bewegung.
Blaues Halstuch: Symbol der Einheit von Pionieren, Elternhaus und Schule.
Seid bereit/Immer bereit: Gruß der Jungen Pioniere.
Dederon: Kunststoff.
SVK: Sozialversicherungskasse.
AWG: Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft.
Spatz: leichtes Motorrad.
VEB: Volkseigener Betrieb.
Junge Welt: Zeitung der FDJ (Freie Dt. Jugend). VMI: Volkswirtschaftliche Masseninitiative.
Volkssolidarität: Spendenorganisation.