Den Eintretenden in einen der ältesten Läden in Karlstadt kündigt das Palim, Palim des Klang-Windspiels an, das das alte Glöckchen ersetzt. Dahinter öffnet sich eine Kaufwelt aus dem Gestern, und man staunt: Was für ein Kleinod. Stoff-Reste-Laden steht noch auf der geschnitzten Holztafel an einem der beiden Schaufenster, hinter dem sich Tuchballen stapeln. So urig wie die schlichten Reklamezettel in DIN-A-Format an der Schaufensterscheibe, so kuschelig und knuffig ist das Geschäft. Hier steht die Zeit still.
Die Stoffrollen, Kissen, Bänder aller Farben und Breiten, Wolle, Halstücher, Stoffreste, Zuschneidebögen und Kurzwaren wie Garne und Knöpfe sind das Reich von Marlene Gutbrod aus Thüngersheim. Die kaufmännische Angestellte aus dem Textilhaus Zang in Zellingen ist seit elf Jahren Fachverkäuferin im Reste-Laden. Elke Schäfer unterstützt sie seit drei Jahren im Verkauf.
Geschäft lässt sie nicht los
Die Seele aber ist Rita Herold. 1998 ging die damals 65-Jährige zwar in Rente, aber bis heute lässt sie das Geschäft nicht los. Sie muss immer mal nach unten schauen, muss mit den Stammkunden plaudern und sich austauschen. „Wer nimmt sich im Supermarkt noch Zeit zum Reden?“ Samstags steht sie ganz offiziell im Laden.
Rita Herold wohnt oben. Ihr gehört das etwa 300 Jahre alte Haus, in das sie als 14-Jährige einzog. Die gebürtige Mühlbacherin wurde 1947 von ihrem Onkel Josef Schweitzer und Tante Resl in Haus und Geschäft genommen. „Ich wollte Schneiderin lernen, aber nach dem Krieg gab es keine Ausbildung für mich. Nun war ich Mädchen für alles.“
Erinnerung an Schulzeit
Rita Herold erinnert sich noch gut an die Schulzeit, die in den ersten beiden Klassen mit 100 Kindern in der alten Karlstadter Schule am Kirchplatz begann, dann in der dritten und vierten Klasse in Mühlbach stattfand und bis zur sechsten Klasse wieder in Karlstadt im 1905 erbauten heutigen Vhs-Gebäude. Den Umzug der Klassenverbände verursachte der näherkommende Krieg und die damit verbundene Umnutzung der alten Schule in ein Lazarett. Derweil wurden die Kinder vor- oder nachmittags unterrichtet.
Als die 14-jährige Rita 1947 ins Tapezier-, Bodenbeläge- und Polstergeschäft ihres Onkels Schweitzer in der Hauptstraße 61 eintrat, war sie gleich ins Haus der Verwandten gezogen. Ihre Mutter Magdalena Herold, geborene Fröhling, war die Schwester von Resl Schweitzer. Ihr Mann Josef jr. führte das Unternehmen, das sein Großvater Kilian Fries als Sattlerei 1890 gegründet hatte nach seinem Vater Josef sen. als Polsterer und Tapezierer mit Bodenbelägen weiter.
Das Mädchen arbeitete im Geschäft und in der im Hof angebauten Werkstatt des Onkels und tapezierte bei den Auftraggebern. „Lohn bekam ich keinen, nur Taschengeld. Dafür war ich aber versorgt. Und große Wünsche hatte ich eh nicht“, blickt die 79-Jährige auf ein glückliches Leben zurück, das sie immer in der Hauptstraße 61 zubrachte.
Nach dem Tod von Josef Schweitzer 1980, der nach 26 Jahren Stadtrat und vier Jahren zweiter Bürgermeister die silberne Stadtehrennadel trug, wechselte die Kollektion hin zu Kinderbedarf und Lederwaren – ein kurzes Intermezzo, das 1983 mit dem Tod von Resl Schweitzer endete. Es war ein großer Einschnitt beruflich wie privat für Rita Gerold. Ihr gehörte nun das Haus.
Das Erdgeschoss pachtete Gerd Baumann, ein Polsterer aus Schweinfurt, für eine Filiale mit Stoff-Resten und Kurzwaren. Er entfernte die Lehmfächer aus der das Gebäude tragenden Holzkonstruktion im Erdgeschoss, die aus zwei Geschäften und einem Hausgang eines machte. Damit schuf er dieses wohl in Karlstadt einmalige Ambiente. Die Besucher bestaunen es, die es neugierig ob der kargen Außenwerbung und des Sortiments die 40 Quadratmeter fast andächtig betreten.
„Das ist nun auch schon bald 30 Jahre her“, sagt Rita Herold, die inzwischen mit Baumanns Sohn Oliver zu tun hat. „Doch die Leute, ob Großstädter, Urlauber, Campinggäste oder Markt-Besucher, wundern sich, dass es so etwas wie uns noch gibt.“ Viele kommen dann später noch einmal als Kunde, denn wo bekommt man heute noch Garne, Fingerhüte und Knöpfe?
Stammkunden aus Würzburg
Ansonsten lebt der kleine bis an die Decke vollgesteckte Laden von Stammkunden bis aus Lohr und Würzburg, zu denen sich auch immer mehr junge Mütter gesellen, die das Selbstnähen für sich entdecken. Das kann Oliver Baumann nur bestätigen: „Immer mehr Menschen wollen etwas Eigenes schaffen, eine eigene Note kreieren, ein Unikat, das sie stolz tragen.“
Die Zeit können Rita Herold, Gutbrod, Schäfer und Baumann nicht zurückdrehen. Dem Textilkauf von der Stange folgt nun das Online-Bestellen vom Sessel aus. Aber ein bisschen was geht immer. Man hört es am Palim des Windspiels.