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KARLSTADT: Flucht ins zerstörte Deutschland

KARLSTADT

Flucht ins zerstörte Deutschland

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    Auch sie waren auf der Flucht: Horst Pötzl flüchtete als junger Wehrmachtssoldat vor den Russen und Rosa Gottschlich als junges Mädchen aus ihrem Dorf im Egerland. Sie kamen in ein vom Krieg zerstörtes Deutschland.
    Auch sie waren auf der Flucht: Horst Pötzl flüchtete als junger Wehrmachtssoldat vor den Russen und Rosa Gottschlich als junges Mädchen aus ihrem Dorf im Egerland. Sie kamen in ein vom Krieg zerstörtes Deutschland. Foto: Foto: Klaus gimmler

    Bundespräsident Joachim Gauck hat in einer viel beachteten Rede das Schicksal der im Zweiten Weltkrieg Vertriebenen mit dem heutiger Flüchtlinge verknüpft. Lässt sich das vergleichen? Wir sprachen mit Rosa Gottschlich und Horst Pötzl von der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Karlstadt. Beide erinnern sich noch genau, wie gefährlich ihre Flucht damals war. Insbesondere der 17-jährige Wehrmachtsunteroffizier Pötzl wurde Zeuge des täglichen Sterbens – auch noch nach Ende des Krieges.

    Pötzl und Gottschlich sind keine Vertriebenen wie die große Masse der Menschen aus dem Sudetenland oder aus Schlesien, die gegen ihren Willen nach dem Zweiten Weltkrieg ins zerstörte Westdeutschland abgeschoben wurden. Sie sind Flüchtlinge. Pötzl floh nach dem Krieg vor den Russen aus Angst vor Gefangenschaft, und Rosa Gottschlich floh mit ihrem Großvater aus dem Egerland in den Spessart. So kam sie der Vertreibung zuvor.

    Übers Riesengebirge in die Heimat

    Pötzl erlebte das Ende des Krieges in einer Scheune in Hirschberg (heute Jelena Gora) in Oberschlesien. Mit anderen Wehrmachtsoldaten hatte er den irrwitzigen Auftrag, den russischen Marsch auf Berlin abzuschneiden. Da war das Ende des Krieges seine Rettung. „Ihr seid keine Soldaten mehr“, habe ein Vorgesetzter zu ihnen gesagt. „Schmeißt eure Waffen weg.“ Doch da die Russen schon bis zur Neiße vorgedrungen waren, war ihnen der Rückzug nach Westen verwehrt. Pötzl trat daher mit vielen anderen den Weg übers Riesengebirge an, um zurück in die Heimat ins Egerland zu kommen. Nur nicht den Russen in die Hände fallen, das war das Ziel.

    Der Krieg war aus, aber das Sterben noch nicht vorbei. Pötzl erinnert sich genau, wie sie bei ihrer Flucht über das Riesengebirge von einem russischen Flugzeug beschossen wurden. Immer wieder sei das Flugzeug über ihnen gekreist und habe auf die Wagenkolonne geschossen. Er selbst habe sich mit einem Wagen über einen Hügel retten können. Als er dann zurückschaute, sah er, dass nur noch ein Teil der Wagen fahrfähig war. Viele leblose Körper wurden in den Graben gerollt, um die Straße wieder befahrbar zu machen.

    In Tschechien war es zunächst sicherer. Vereinzelt seien sie auf tschechische Zivilisten getroffen, die bewaffnet waren. „Die waren aber zu wenig und hatten nicht den Mut, uns zu stoppen“, erinnert sich Pötzl. Er vermutet, sie seien sich nicht sicher gewesen, ob sie nicht doch Waffen dabei gehabt hätten. Schließlich trafen sie kurz vor Prag auf die russische Armee. Pötzls Flucht endete in russischer Gefangenschaft. Mit den SS-Soldaten hätten die Russen dann sofort kurzen Prozess gemacht. Alle mussten ihren Oberkörper frei machen. Pötzl wurde Zeuge, wie ein SS-Offizier den Genickschuss bekam, als auf seinem linken Oberarm die eintätowierte Blutgruppe entdeckt worden war. Dies war ein Zeichen seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS.

    Weiße Armbinde als Brandmarke

    Die damals 13-jährige Rosa Gottschlich lebte zur dieser Zeit in einem Dorf bei Königsberg im Egerland bei ihren Großeltern. Von den großen Kriegswirren war dieses kleine Dorf bislang verschont geblieben, doch die Auswirkungen waren zu spüren. Ihr Vater war in russischer Gefangenschaft, ihre Mutter lag lungenkrank im Krankenhaus in Eger. Ein tschechischer Kommissar hatte bereits eine Wohnung im Haus des Großvaters besetzt. Wenn sie raus ging, musste sie eine weiße Armbinde mit dem großen Buchstaben „N“ anlegen, die sie als Deutsche (tschechisch „Nemec“) brandmarkte.

    Die Diskriminierungen nahmen zu, zudem war allen klar, dass sie früher oder später vertrieben würden, wenn sie nicht mehr nützlich für die Tschechen waren. Im Dezember 1945 fasste daher ihr Großvater den Entschluss, der Vertreibung zuvor zu kommen. Sie machten sich auf in den Westen zusammen mit der Tante und einer kleinen Cousine. Das Ziel war Heinrichsthal im Spessart. Dort hatten sie Verwandte.

    Flucht bei großer Kälte

    Für die heute 82-Jährige ist diese Flucht noch sehr präsent. Sie erinnert sich, wie sie mitten in der Nacht bei Eiseskälte aus dem Haus geschlichen waren. Die glühenden Zigaretten von den Wachtposten waren in der Dunkelheit gut zu erkennen. An ihnen mussten sie vorbei. Wären sie erwischt worden, wären sie ins Gefängnis gekommen. Es war ein langer und beschwerlicher Fußmarsch. Es war kalt, und sie hatte gefrorene Füße und Hände, aber die Flucht gelang.

    Heinrichsthal war nur ein kurzer Stopp, von dort ging es weiter in ein Flüchtlingslager bei Heigenbrücken. Die Familie war da sogar für kurze Zeit vereint. Dem aus der Gefangenschaft entlassenen Vater war es gelungen, die kranke Mutter dorthin zu bringen. Die Schwester war auch schon da. Die Zustände seien aber menschenunwürdig gewesen, erinnert sich Gottschlich. „Im Flüchtlingslager lief das Wasser von den Wänden, wir hungerten und gingen auf die Straße zum Betteln.“

    Das Schlimmste war aber, dass die Mutter einen Rückschlag erlitt. Sie wurde wieder krank, vielleicht auch, „weil sie für uns gehungert hat, damit wir was zu essen haben“, so Gottschlich. Im Krankenhaus gab es keine Medikamente. Sie starb ein Jahr später mit nur 36 Jahren.

    Das gleiche Schicksal traf die fünf Jahre ältere Schwester. Sie bekam TBC und starb im Jahre 1951 im Alter von 23 Jahren. Der Großvater folgte 1953 mit 65 Jahren. Gottschlich ist sich sicher, er ist an gebrochenem Herzen gestorben. Den Verlust der Heimat habe er nie verkraftet.

    Glück in Karlstadt gefunden

    Nach Karlstadt kam Rosa Gottschlich mit ihrem Vater. Der heiratete das zweite Mal und betrieb dann die Schreinerei Schneider in der Färbergasse in der Altstadt. Auch sie selbst fand ihr Glück und heiratete dort Werner Gottschlich aus Retzbach, den es aus Schlesien dorthin verschlagen hatte. Als in den 60er Jahren unter Bürgermeister Christian Krapf Bauplätze in der Karlstadter Siedlung geschaffen wurden, nutzten sie diese Gelegenheit und bauten sich dort ein Haus.

    Es waren Bauplätze nicht nur für Vertriebene, aber an sie wurde besonders gedacht. Das zeigen die Straßennamen wie Sudetenstraße, Schlesierstraße, Ostlandstraße und Egerländerstraße. In Letzterer wohnt die Familie Gottschlich, was zwar besonders gut passt, aber es kann ihr natürlich nicht den Verlust der Heimat ersetzen. Obwohl sie schon lange Zeit in Karlstadt ist, sagt sie von sich, dass sie durch und durch eine Sudetendeutsche sei. Das sei ihre Heimat, da habe sie ihre Wurzeln.

    Besuche in der Heimat

    Nach dem Fall der Mauer habe sie ihre Heimat ein paar Mal besucht. Von ihrem Dorf ist wenig übrig geblieben. Die Tschechen hätten alles weggerissen, das Holz wurde verfeuert und die Steine seien verbaut worden. Selbst in der Stadt Eger sei vieles verkommen. In der letzten Zeit sei aber sichtbar ein Wandel eingetreten. Auch die Tschechen pflegen nun das historische Erbe, stellt Gottschlich fest. Eine neue Generation habe das Sagen, die nicht mehr vom Krieg geprägt ist. Der gegenseitige Hass sei nicht mehr da.

    Pötzl verbrachte einige Jahre in Gefangenschaft. Er war in Breslau, Lodz und in Warschau. Erst im Mai 1950 kam er wieder heim. Über Marburg, wo es seine Mutter hingeschlagen hatte, kam er später nach Karlstadt.

    Ihre Flucht mit der heutigen Fluchtwelle könne man aber nicht vergleichen, sagen beide. „Wir flohen in ein völlig zerstörtes Deutschland“, so Gottschlich. „Um uns hat sich niemand gekümmert.“

    Kein Nachwuchs

    Die Sudetendeutsche Landsmannschaft in Karlstadt hat aktuell nur noch 22 Mitglieder und die meisten sind schon lange im Rentenalter. Vorsitzende ist seit 1998 Rosa Gottschlich. 1998 hatte die Landsmannschaft noch 30 Mitglieder gehabt. Das jüngste Mitglied ist derzeit der Landtagsabgeordneter Günther Felbinger.

    Gottschlich ist sich sicher, dass es die Landsmannschaft in Karlstadt bald nicht mehr geben werde, denn es fehlt an Nachwuchs. Auch sie würde gerne den Vorsitz abgeben, aber es finde sich kein Kandidat dafür.

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