In fast sämtlichen Regionen Deutschlands sind die zunehmenden Übergriffe von Greifvögeln wie Wanderfalke, Sperber, Habicht und Co. auf die Brieftauben zu einem existenziellen Problem geworden, klagen die Taubenzüchter der Reisevereinigung (RV) Karlstadt. Unter ihrem Dach sind Taubenfreunde aus Rieneck, Burgsinn, Langenprozelten, Aura, Obersinn, Mühlbach, Karlstadt, Thüngen und Stetten organisiert. Aufgrund einer „explodierenden“ Population der Greifvögel spricht Vorsitzender Erwin Rienecker (Mühlbach) von einem „brutalen Leidensdruck“, wenn einem Züchter pro Flugsaison 40 bis 50 Brieftauben von Beutegreifern geschlagen werden.
Freiflüge über das ganze Jahr hinweg gehören der Vergangenheit an. Gerade einmal ab Mitte April bis Anfang September ist eine Flugzeit im Training oder Preisflug möglich. Manche wertvolle Zuchttauben erhalten nie mehr einen Freiflug, beklagt ein Kollege. Rienecker erinnert sich an den Beginn seiner „Brieftaubenzeit“ vor 40 Jahren, als pro Flugsaison gerade einmal acht bis zehn Tiere von den Raubvögeln geholt wurden. „Das war noch zu verkraften. Aber heute geht es an die wirtschaftliche und psychische Grenze, wenn von 60 Jungtauben die Hälfte davon in den ersten vier Monaten vom Falken oder Habicht geholt oder der Schwarm versprengt wird und die Tauben sich verirren.“
Rienecker selbst wurden vor Kurzem an einem Tag vier Tauben direkt am Haus geschlagen. Nicht nur Katzen, Hunde, Singvögel oder Wildtiere seien schützenswert; auch die Brieftauben hätten ein Recht geschützt zu werden, fordert Rienecker im Namen der RV-Vereine. „Aber das scheint die Tier- und Naturschützer überhaupt nicht zu interessieren.“ Seiner Meinung nach ist die Politik gefordert, sich für den Erhalt des Kulturgutes Brieftaube einzusetzen.
„Wir wollen keine Abschaffung der Greifvögel. Nur sollte ihre Anzahl in einem gesunden Verhältnis zur Zahl der in der Natur vorkommenden Beutetiere stehen. Das Niederwild wie Fasane, Hasen, Kaninchen, Kiebitze und Rebhühner in Wiesen, Feld und Wald hat sich in den letzten Jahren ebenfalls stark verringert und steht auf der roten Liste“, umreißt der RV-Vorsitzende die Forderung der MSP-Züchter.
Abhilfe könnte eine begrenzte Jagdzeit auf die Beutegreifer schaffen, um das angeblich gestörte biologische Gleichgewicht wieder herzustellen. Ebenso sei ein Verbot der Auswilderung von Raubvögeln nötig, meinen die Taubenzüchter. Solange die Greifvögel unter Naturschutz stehen, vermehren sie sich. „Dieses Problem macht den Taubensport kaputt und man verliert den Spaß an seinem Hobby.“ Wanderfalken ernähren sich überwiegend von Brieftauben, ist Erwin Rienecker überzeugt. „Wir Taubenzüchter wollen nicht weiter die Futterstation der Greifvögel sein.“ Er habe in den fünfeinhalb Monaten der Frei- und Preisflüge 30 bis 40 Tauben verloren. Durch den einseitigen Artenschutz seien viele Vogel- und Niederwildarten in Deutschland vom Aussterben bedroht.
Dieses Problem sieht auch der Obersinner Züchter Heinrich Malczyk vom Verein „Gut Flug Obersinn“, der in den vergangenen beiden Jahren die RV-Meisterschaft gewann. Fast täglich registriere er bei Freiflügen Attacken von Beutegreifern. 2013 habe er insgesamt 52 Alt- und Jungtauben verloren. In den ersten sechs Wochen dieser Saison seien es bereits 16 Tiere gewesen. Viele Tauben kämen auch verletzt von den Preisflügen zurück und verenden.
Der Mittelsinner Taubenzüchter Reinhold Gehrlinger erinnert sich, vor 30 Jahren, bei zwölf Monaten Freiflug, gerade einmal fünf Tauben verloren zu haben. Heute greife der Raubvogel sogar an, wenn der Züchter direkt neben dem Schlag steht. Inzwischen verscheucht er auf seinem Hof mit einer Metallklappe die Greifvögel. Seine Verlustbilanz liegt heuer bei 15 Brieftauben. Ein Freund und bekannter Züchter gebe wegen des Wanderfalken das Hobby auf, erzählt Gehrlinger. Spitzentiere werden mit bis zu 10 000 Euro gehandelt. So ist der Verlust einer Taube auch ein wirtschaftliches Problem.
Der Würzburger RV-Vorsitzende Harald Herbach, auch Vorsitzender des Regionalverbandes, weiß, dass im Landkreis Würzburg acht Wanderfalkenhorste bestehen, von denen sechs bewohnt seien. 2013 habe sein Verein 212 Fußringe getöteter Brieftauben erhalten, die alle aus einem einzigen Wanderfalkenhorst einer Brutsaison stammen sollen. Die Reviere seien überbesetzt.
Als im Juni 2013 die Autobahnbrücke der A7 bei Römershag gesprengt wurde, hätten Arbeiter auf einem Brückenpfeiler einen Wanderfalkenhorst mit 295 Ringen von Brieftauben gefunden, wobei etliche mehr aus dem Horst gefallen sein dürften, erzählt Herbach. Darunter hätten sich auch drei Ringe Obersinner Züchter gefunden – ein Beweis dafür, dass die Falken im Umkreis von rund 30 Kilometer jagen. Die Taubenzüchter fordern die Rückgabe der Ringe, doch würden Naturschützer solche Funde gern verschweigen.