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WOMBACH: Lottas Familie muss immer hellwach sein

WOMBACH

Lottas Familie muss immer hellwach sein

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    Die vierjährige Lotta mit ihrer Mama auf dem Sofa, wo sie gerne kuschelt. „Unsere Familie ist durch Lottas Erkrankung noch viel enger zusammen gewachsen. Wir sind nicht weniger glücklich – nur müder“, erklärt Ronja Stickel.
    Die vierjährige Lotta mit ihrer Mama auf dem Sofa, wo sie gerne kuschelt. „Unsere Familie ist durch Lottas Erkrankung noch viel enger zusammen gewachsen. Wir sind nicht weniger glücklich – nur müder“, erklärt Ronja Stickel. Foto: Foto: BIRGIT WAGNER

    Die kleine Lotta ist vier Jahre alt. Sie liegt auf dem Rücken auf ihrer himmelblauen Krabbeldecke und schaut mit wachen Augen um sich, doch sie hat keine Möglichkeit, ihre Umwelt näher zu erkunden. Die Bewegungen ihrer Arme, Hände und Beine kann sie nicht kontrollieren, auch das Köpfchen kann sie nicht halten. Mit elf Monaten wurde bei Lotta das Rett-Syndrom diagnostiziert, nach dem Down-Syndrom die zweithäufigste Erkrankung durch eine spontane Genmutation, die jedoch kaum bekannt ist.

    Die Kinder, fast ausschließlich Mädchen, kommen gesund zur Welt. Der Gendefekt zeigt sich erst nach sechs bis achtzehn Monaten normaler Entwicklung. Bei vollem Bewusstsein verlieren die Kinder sämtliche, bereits erworbene Fähigkeiten. Die Steuerung von Motorik und Sprache lässt immer mehr nach. Spielzeug fällt ihnen aus den Händen, Greifbewegungen werden unmöglich, Sitzen, Krabbeln und Laufen funktioniert nicht mehr.

    Bereits der Weg zur Diagnose war für Lotta und ihre Familie eine Tortur. „Wir wurden immer wieder beruhigt, es sei alles in Ordnung mit Lotta“, erinnert sich Ronja Stickel. „Obwohl überdeutlich wurde, dass mit dem Kind etwas nicht stimmt, wurden uns von mehreren Ärzten und Therapeuten übertriebene Sorge oder Erziehungsfehler unterstellt.“

    Doch Ronja und Oliver Stickel ließen nicht locker. Schließlich hatten sie bereits eine kleine Tochter, Enie, bei der die Entwicklung ganz normal verlaufen war. Im Missionsärztlichen Krankenhaus in Würzburg bekamen sie endlich Gewissheit. Bereits wenige Stunden nach der stationären Aufnahme lagen vier Verdachtsdiagnosen auf das Rett-Syndrom vor. Diese wurden dann per Gentest bestätigt.

    Mehrfach Rettungshubschrauber

    Nach einer schweren autistischen Phase, die zum Krankheitsverlauf dazu gehört, hat sich seit Oktober 2014 bei Lotta noch zusätzlich eine therapieresistente Epilepsie entwickelt, die untypisch für das Rett-Syndrom ist. Sie krampft mehrmals täglich, fast immer mit schwerer Atemnot, oft auch mit Atemstillstand. Dann muss Lotta von ihren Eltern beatmet werden. Nachts wacht ein Monitor über ihre Atmung und über ihre Herzfrequenz.

    Mehrmals musste Lotta bereits mit dem Rettungshubschrauber in die Klinik geflogen werden. Die Familie, zu der seit kurzem auch die Therapiehunde Paula und Lilli gehören, ist in ständiger Alarmbereitschaft und wacht mit größter Aufmerksamkeit über die Kleine.

    Lotta ist vom Rett-Syndrom besonders schwer betroffen und dabei kognitiv kaum eingeschränkt. Das bedeutet, dass sie sich mitteilen möchte, dass in ihrem Kopf vieles vorgeht und dass sie am Leben teilhaben möchte. Ihre Familie geht viele Wege, um ihr dies zu ermöglichen. Da sie kaum mehr sprechen kann und mit Händen keine Gebärden formen kann, gehen viele Interaktionen über Blicke. Wenn Lotta Musik hören möchte, schaut sie zum CD-Player auf dem Küchenschrank. Am Kühlschrank hängen magnetische Metacom-Symbole, die ihr zeigen, wie ihr Tag strukturiert ist. Die kleinen Kärtchen mit den plastischen bunten Symbolen zeigen ihr den Wochentag, und zum Beispiel, ob Baden in der Wanne auf dem Programm steht. Kommunikation ist für Lotta Lebenselixier. Deswegen soll ihr bald ein augengesteuerter Computer dabei helfen, sich mitzuteilen.

    Ronja Stickel wünscht sich wachsende Wahrnehmung und Akzeptanz der Krankheit in der Gesellschaft, ähnlich wie beim Down-Syndrom. Lotta genießt es, wenn sie angesprochen und begrüßt wird, oder wenn sie ein Kompliment bekommt. „Lotta wird im täglichen Leben leider kaum wahrgenommen“, bedauert Ronja. Das Scheibchen Wurst beim Metzger oder der Glitzerkleber vom Zahnarzt sind eine riesengroße Freude für sie. „Wir möchten keine Sonderstellung für Lotta, sondern dass sie einfach als vierjähriges Mädchen wahrgenommen wird.“ Dafür hilft ihr ganz besonders, dass sie nach einem siebenmonatigen Krankenhausaufenthalt seit kurzem den Kindergarten der Lebenshilfe wieder besuchen kann. Dreimal in der Woche genießt Lotta das Zusammensein mit den anderen Kindern und den Erzieherinnen.

    Da Lotta auf Grund ihrer Atemstillstände keinen Moment aus den Augen gelassen werden darf, wird die Familie stundenweise von zwei Kinderkrankenschwestern des Pflegedienstes „Kleiner Bär“ aus Kleinostheim unterstützt. „Damit ich einfach auch mal mit meiner großen Tochter Enie in Ruhe Hausaufgaben oder ein Spiel machen kann“, sagt die Mutter. „Wir sind sehr dankbar, dass uns unsere Krankenkasse und der Kinderpflegedienst so toll unterstützen.

    Leider kommt diese Hilfe bis jetzt nur zwei-, dreimal die Woche bei uns an, da es an ortsnahen medizinischen Fachkräften mangelt“. Familie Stickel sucht dringend zwei oder drei weitere Krankenschwestern, die sie zu Hause und zur Kindergartenbegleitung unterstützen.

    Trotz aller Einschränkungen hat Lotta wieder großen Spaß am Leben gefunden und ist ein freundliches und fröhliches Kind. Sie hat eine enge Bindung an ihre Familie und zu Bezugspersonen. Lotta liebt schaukeln, Pferde, Bratwurst und Musik. Damit sie sich wieder an ihrem Hobby erfreuen kann, sammelte der Verein „Hoffnung schenken“ aus Neustadt am Main für eine behindertengerechte Schaukel. Langfristig sucht die naturverbundene Familie ein barrierefreies Haus, das für Lottas Pflege Raum und Möglichkeiten bietet.

    Das Rett-Syndrom

    Diese spontane Genmutation mit der Folge einer schweren geistigen und körperlichen Behinderung betrifft fast ausschließlich Mädchen. Eines von 10 000 Mädchen bekommt das Rett-Syndrom. Somit ist das Rett-Syndrom neben dem Down-Syndrom die zweithäufigste Behinderung bei Mädchen. In Deutschland werden jedes Jahr 50 bis 60 Mädchen mit Rett-Syndrom geboren.

    Erstmalig 1966 beschrieben wurde es von Prof. Dr. Andreas Rett (†), Wien. Nach normaler Schwangerschaft sind zunächst keine besonderen Auffälligkeiten zu erkennen. Erst später treten innere Zurückgezogenheit, vermindertes Kopfwachstum, Verlust von erworbenen Fähigkeiten und sozialer Kontaktfähigkeit sowie eine erhebliche Störung der Sprachentwicklung auf. Viele der Kinder erlernen das Laufen nicht oder nur eingeschränkt. Typische Begleiterscheinungen sind Skoliose, Epilepsie und Atmungsauffälligkeiten.

    Der Entwicklungsstillstand, besonders aber der Verlust vorhandener Fähigkeiten, sind für die Kinder und ihre Familien sehr belastend. Häufig stabilisieren sich die Betroffenen nach einigen Jahren, öffnen sich wieder ihrer Umwelt und machen kleine Entwicklungsfortschritte. Sie bleiben allerdings ihr Leben lang in ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung stark eingeschränkt und sind auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Bisher gibt es noch keine Therapie, die das Rett- Syndrom ursächlich heilen kann. Es gibt jedoch eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten, mit denen die Kinder un- terstützt werden können, zum Beispiel Musik- oder Craniosacrale Therapie.

    Weitere Informationen zum Rett-Syndrom und seiner wissenschaftliche Erforschung unter: www.rett-syndrom-deutschland.de, www.rett.de

    Kinderpflegedienst Kontakt: www.kleinerbaer.de/index.html

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