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Lohr: Medizingeschichte: Ärztin forscht zu Krankenmorden in der Heil- und Pflegeanstalt Lohr während des Nationalsozialismus

Lohr

Medizingeschichte: Ärztin forscht zu Krankenmorden in der Heil- und Pflegeanstalt Lohr während des Nationalsozialismus

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    Die Heil- und Pflegeanstalt in Lohr wurde 1912 fertiggestellt. Heute befindet sich hier das Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin.
    Die Heil- und Pflegeanstalt in Lohr wurde 1912 fertiggestellt. Heute befindet sich hier das Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin. Foto: Johannes Ungemach (Archivfoto)

    Wie sah der Alltag in der Psychiatrie in der Heil- und Pflegeanstalt Lohr zur Zeit der Krankenmorde im Nationalsozialismus aus? Dieser Frage ist Judith Irmscher in ihrer Doktorarbeit nachgegangen. Sie arbeitet als Assistenzärztin am Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin in Lohr. Die Klinik befindet sich am selben Ort wie einst die Anstalt.

    Über die Zeit des Nationalsozialismus (1933 bis 1945) und die Patientenmorde in der Lohrer Heil- und Pflegeanstalt haben im größeren Umfang bereits Raoul Posamentier und Maximilian Vissers geforscht und darüber geschrieben. Allein im Oktober und November 1940 wurden mindestens 451 Patientinnen und Patienten von der Lohrer Anstalt aus in Zwischen- und Tötungsanstalten verlegt. So schreibt es der Bezirk auf einer Gedenktafel.

    Durch Irmschers Arbeit ist ein neuer Schwerpunkt hinzugekommen: der der Krankenpflege. Der vollständige Titel ihrer Arbeit lautet "Krankenpflege und Psychiatriealltag der Heil- und Pflegeanstalt Lohr am Main während der Krankenmorde im Nationalsozialismus".

    Von Werdegang geprägt

    Wie die Ärztin im Gespräch mit dieser Redaktion erläutert, hat ihre Themenwahl mit ihrem Werdegang zu tun. Irmscher absolvierte vor ihrem Medizinstudium eine Ausbildung in der Krankenpflege. Im Fach "Geschichte der Medizin" habe ihre Professorin Karen Nolte ihr Interesse geweckt, sich mit der Ermordung psychischer kranker Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Schließlich habe Nolte ihr diesen Schwerpunkt vorgeschlagen. Wie Irmscher habe auch die Professorin vor ihrem Geschichts-, Soziologie- und Volkskundestudium das Examen in der Krankenpflege abgelegt.

    Judith Irmscher hat ihre Doktorarbeit über die Heil- und Pflegeanstalt in Lohr geschrieben. 
    Judith Irmscher hat ihre Doktorarbeit über die Heil- und Pflegeanstalt in Lohr geschrieben.  Foto: Monika Büdel

    So beschäftigte sich Judith Irmscher mit dem Alltag der Pflegenden in der Psychiatrie während des Nationalsozialismus, geht aber noch einen Schritt weiter zurück und blickt auf die Entwicklung dieses Fachgebiets, der Anstalten und des Pflegeberufs. So erfahren die Leserinnen und Leser unter anderem, dass für die in der Krankenpflege tätigen Frauen das Berufszölibat galt. Wer von ihnen heiratete, war raus aus dem Beruf. Männer die als Pfleger arbeiteten, durften weiterarbeiten, wenn sie Familie gründeten.

    Auch damals herrschte schon Personalmangel

    Einige Stellen im Buch wirken hingegen geradezu aktuell. So heißt es schon auf den ersten Seiten zum Mangel an Pflegepersonal: "Der 'Verein der deutschen Irrenärzte' (...) forderte 1896 eine Gehaltserhöhung, Bereitstellung von Wohnraum für verheiratete Pfleger sowie die Einführung einer Altersvorsorge für Angestellt in der 'Irrenpflege'."

    Intensiv beschäftigt hat sich die Medizinerin mit der Frage, welchen Einfluss die Pflegekräfte auf die ärztliche Dokumentation und die Deportation – also die Verlegung von Patienten in die Tötungsanstalten – hatten. Sofern die Aufzeichnungen erhalten sind, hat Irmscher festgestellt, dass die Beschreibungen der Schwestern und Pfleger oft von den Ärzten übernommen werden, teils sogar wörtlich. Dafür, dass Pflegekräfte den Zustand der Kranken positiver dargestellt hätten, um die Patienten vor der Deportation zu bewahren, habe sie keine Hinweise gefunden.

    Die Pflegenden wussten offenbar von der Euthanasie-Aktion

    Dass die Pflegenden nichts von der Euthanasie-Aktion gewusst hätten, ist laut Irmscher so gut wie ausgeschlossen. Auch wenn es keine konkreten Beweise gebe, so fänden sich genügend Hinweise. Der Begriff Euthanasie – aus dem Griechischen für der schöne Tod – wurde von den Nationalsozialisten beschönigend für ihr systematisches Ermorden der Kranken verwendet.

    Bei 58 Prozent der Patientinnen und Patienten, die deportiert wurden, habe die Diagnose Schizophrenie vorgelegen, schreibt Irmscher. Damit waren die Schizophrenen die am stärksten gefährdete Patientengruppe. Sie habe keine Anhaltspunkte für geschönte Diagnosen gefunden, die Kranke womöglich vor der Verlegung in Tötungsanstalten bewahrt hätten. Gute Überlebenschancen hätten Menschen mit Alkoholismus gehabt, der als heilbar galt. Die davon Betroffenen seien meist arbeitsfähig gewesen, wovon die Anstalt profitiert habe.

    Es gibt noch viel zu Nationalsozialismus und "Euthanasie" zu erforschen

    Was leitet Judith Irmscher aus ihrer Forschungsarbeit ab? "Die wichtigste Botschaft an Pflegekräfte ist, dass sie Einfluss auf das Schicksal der Kranken haben können." Außerdem habe sie festgestellt, dass es noch viele Gesichtspunkte zu erforschen gibt im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und der "Euthanasie"-Aktion, die oft auch als Aktion T4 bezeichnet wird, weil sie in der Tiergartenstraße 4 in Berlin beschlossen wurde. So habe sie nur ansatzweise das Thema dezentrale Krankenmorde in Lohr aufgegriffen. Bei ihrer stichpunktartigen Untersuchung habe sich gezeigt, dass die Sterberate in der Lohrer Heil- und Pflegeanstalt in etwa der der Tötungsanstalten entsprach. Das heißt, Patienten kamen aufgrund schlechter Versorgung und mangelnder Ernährung ums Leben.

    Die Arbeit von Judith Irmscher ist veröffentlicht auf der Plattform: https://opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de, Raoul Posamentiers Forschungsergebnisse stehen in "Psychiatrie im Nationalsozialismus", herausgegeben 1999 von Michael von Cranach und Hans-Ludwig Siemen.

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