In den Staatswäldern des hessischen Nordspessarts haben Forstleute in Missachtung ihrer Dienstpflicht schwere Schäden am Wald verursacht, indem sie jahrelang massiv überhöhte Rotwildbestände hegten und pflegten. Diesen Vorwurf erhebt der Bund für Umwelt- und Naturschutz in Deutschland (BUND).
Der Landesbetrieb Hessenforst kündigt eine Kurskorrektur an. Man werde die Abschüsse erhöhen und den Rotwildbestand reduzieren, so Pressesprecherin Petra Westphal. Bereits in der am 31. Januar zu Ende gegangenen Schusszeit habe man im Forstamtsbereich statt der geplanten 273 Stück Rotwild 329 geschossen. Der Reduktionsprozess könne jedoch noch Jahre dauern.
Der „Rotwildskandal im Forstamt Jossgrund“ ist Thema im jetzt vom BUND vorgestellten „Waldbericht 2016“. Betroffen sind demnach hessische Staatswälder, die direkt an den Landkreis Main-Spessart angrenzen. Dort seien ökologische und ökonomische Schäden von „unvorstellbarem Ausmaß“ zu beobachten, so der BUND.
Basis der Kritik ist eine Zustandserfassung, für die Michael Kunkel, der Vorsitzende der Heigenbrückener Ortsgruppe des Bundes Naturschutz, im Jahr 2015 und im Auftrag des BUND über Monate die hessischen Staatswälder zwischen Flörsbach, Lohrhaupten und Mernes unter die Lupe genommen hat. Er sagt über das Kerngebiet des Forstamtes: „Dort ist der Wald auf einer Fläche von 4000 Hektar nahezu totalgeschädigt.“ Es herrschten „Zuständen wie in einem Wildpark“. Selbst tagsüber könne man Rudel von 60 und mehr Tieren antreffen. Im Bericht heißt es: „Häufig liegt ein rotwildtypischer, an Viehställe erinnernder Stallgeruch in der Luft.“
Die Rotwilddichte sei so hoch, dass es den Tieren an Nahrung mangle. Der BUND spricht von tierschutzwidriger Massentierhaltung. Im Kerngebiet lebten wohl über zehn Stück Rotwild pro 100 Hektar Wald. Unter Wildbiologen gelte schon ein Bestand von 1,5 Tieren pro 100 Hektar als nicht mehr waldverträglich.
„Häufig liegt ein rotwildtypischer, an Viehställe erinnernder Stallgeruch in der Luft.“
Zitat aus dem BUND-Bericht zu den Zuständen im Hessenforst bei Jossgrund
Junge Waldbäume seien flächig zu „Bonsai-Gestalten“ zusammengebissen. Im Kerngebiet finde sich kaum ein Baum ohne Schälschaden. Die so eindringenden holzzersetzenden Pilze entwerteten das Holz und destabilisierten ganze Bestände, so der BUND. Es komme zu einer Entmischung und ökologischen Verarmung des Waldes.
Schuld daran tragen laut BUND die Verantwortlichen im Forstamt Jossgrund, deren Herz nicht für den Wald, sondern für die Trophäenjagd und für überhöhte Wildbestände schlage. Sie gäben sich „pflichtvergessen der Jagd hin“ statt ihrer im hessischen Waldgesetz verankerten Pflicht nachzukommen, Waldökosysteme als artenreiche Lebensräume zu erhalten, kritisiert der BUND.
Aber auch die in Kassel angesiedelte Spitze des Hessenforstes, die Jagdbehörden und das hessische Umweltministerium seien allesamt Teil des Problems, da sie ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen seien. Die Bevölkerung der hessischen Spessartgemeinde nehme in alter Obrigkeitshörigkeit die „immensen und unübersehbaren Schäden am Volksvermögen Wald klaglos hin“, heißt es in dem Bericht verwundert.
Der BUND verlangt vom Hessenforst mit Blick auf die Zustände im Forstamt Jossgrund eine „drastische Kehrtwende“. Der Landesbetrieb kündigt zumindest eine Kurskorrektur an. Es sei „in der Tat so, dass die Wildschäden dort zu hoch“ seien, sagt Hessenforst-Pressesprecherin Petra Westphal.
Welch gewaltige Rotwildbestände im Jossgrund ihre Bahnen ziehen müssen, verdeutlicht ein Blick auf die Abschusszahlen. Während im rund 17 000 Hektar umfassenden Forstamt Jossgrund im zu Ende gegangenen Jagdjahr 329 Stück Rotwild erlegt wurden, waren es im nahezu gleich großen angrenzenden bayerischen Forstbetrieb Heigenbrücken gerade einmal 63.
Auf die Frage, wie es zu den jetzigen Zuständen kommen konnte, sagte Hessenforst-Sprecherin Westphal gegenüber dieser Redaktion: „Da muss ich passen.“ Vor vielen Jahren hätten in weiten Teilen des hessischen Landesforstamtes tatsächlich die Trophäenjagd und damit verbundene hohe Wildbestände einen großen Stellenwert gehabt. Im Forstamt Jossgrund habe sich dieses heute in weiten Forstkreisen überholte Denken „offenbar länger gehalten als andernorts“.
Die Frage der Haftbarkeit für die entstandenen Schäden stelle sich nicht, so Westphal. Es seien niemals Einzelpersonen, die solche Zustände zu verantworten hätten. Man könne nicht klären, wer zu welchen Anteilen die Verantwortung trage.
Auch seien keine personellen Veränderungen geplant. Der jagdliche Kurswechsel soll demnach mit dem gleichen Personal vollzogen werden, das die derzeitigen Zustände maßgeblich zu verantworten hat. Allerdings, so Westphal, werde es eine „intensive Begleitung“ durch übergeordnete Stellen geben.
Dass ein Kurswechsel ohne Begleitung kaum gelingen dürfte, verdeutlichen Aussagen von Hans-Jürgen Bachmann, der seit nunmehr 25 Jahren Leiter des Forstamtes Jossgrund ist. Er wollte sich gegenüber der Redaktion nicht im Detail äußern, sprach jedoch von „reißerisch-ideologischen“ Vorwürfen. Die massiven Schäden am Wald seines Zuständigkeitsbereiches erklärte er damit, dass sich Rotwild „nun mal nicht von Luft“ ernähren könne.
Wie es anders gehen kann als im Jossgrund, zeigt nach Aussage des BUND der Blick in den Bayerischen Staatsforst. Dort seien die Wildbestände an den Lebensraum angepasst.
Dass die Umsetzung des in Bayern gesetzlich verankerten Grundsatzes „Wald vor Wild“ kein Selbstläufer ist, verdeutlichen die Aussagen der hiesigen Forstbetriebsleiter. Sowohl Rudolf Zwicknagel, Leiter des bayerischen Forstbetriebes Heigenbrücken, als auch Gunter Hahner, stellvertretender Leiter des Forstbetriebes Hammelburg, beschreiben, dass in den an den Hessenforst angrenzenden Bereichen die Rotwilddichte am höchsten sei und durch entsprechenden jagdlichen Einsatz stetig abgeschöpft werden müsse, um ein Herüberschwappen überhöhter Rotwildbestände zu vermeiden.