Den Ortsteil Richtung Partenstein kennen viele noch unter dem Namen "Nadelheim". Die Frammersbacher arbeiteten vorwiegend für Aschaffenburger Kleiderfabriken und waren als tüchtige und fleißige Schneider bekannt. Nicht zuletzt deshalb gründeten große Unternehmer wie Müller-Wipperfürth aus dem Ruhrgebiet in der Lohrtalgemeinde große Fabriken. Mehr als 1000 Frauen und Männer waren in den 60er Jahren in der Konfektionsnäherei beschäftigt.
Den Erfolg vor Augen, wagten auch einige Frammersbacher den Schritt in die Selbstständigkeit und gründeten Kleiderfabriken. Mit zu den bekanntesten gehörte die Firma Kirsch & Co., die in Frammersbach produzierte und die Bekleidung in eigenen Filialen in ganz Deutschland verkaufte. "Kico", wie die Firma in Frammersbach genannt wird, hatte Geschäfte in Essen, Bad Orb, Ludwigshafen, Mannheim und München.
Auch der gelernte Schneider Willi Friedel gehörte 1963 zu den Mutigen und gründete eine Kleiderfabrik. Bis zu 130 Arbeitskräfte hatte er in der Hochblüte der Konfektionsnäherei beschäftigt. 1998 musste er den Betrieb aus Rentabilitätsgründen schließen. "Wir waren dumm, naiv und voller Tatendrang", erinnert sich der 72-jährige Rentner. Weder er noch seine Mitstreiter konnten damals ahnen, wie sich die Bekleidungsindustrie entwickeln würde. "Heute produzieren die Chinesen für einen Bruchteil dessen, was die Arbeit hier kostet", sagt Friedel und schüttelt den Kopf, als könne er das alles gar nicht glauben.
Mit Kleiderkonfektion ist in Deutschland kein Geschäft mehr zu machen. Dennoch gibt es viele Menschen, die auf das Können eines Schneiders angewiesen sind. "Es sind die Krummen und Buckligen, die Dicken und Kleinen, die zu mir kommen", beschreibt Friedel seine heutige Kundschaft. Mit Augenmaß und Maßband vermisst er Menschen mit Extremfiguren, um ihnen einen gut sitzenden Anzug oder einen Sakko zu verpassen. Seine Stammkunden fahren zur Kur nach Bad Orb und wohnen in Berlin und Düsseldorf. Sie wissen die jahrzehntelange Berufserfahrung des Schneiders zu schätzen. "Schwere Figuren brauchen schwere Stoffe. Leute mit Übergewicht sollten schwere Materialien wie Fresko oder Twist wählen."
Übrigens: Der lässige Bekleidungsstil des Bundeskanzlers kränkt das Auge des Fachmanns: "Die Anzüge sind zu schlabberig und knittern zu schnell, das sieht unmöglich aus." Selbst die Tagesschau-Sprecher, hat er beobachtet, sind oft nicht gut angezogen. Geschmack- und stilsicher würden sich heute nur noch Engländer, Italiener und Franzosen kleiden.
Je nach Stoff und Ausführung kostet ein Maßanzug zwischen 500 und 800 Euro - viel Geld auf den ersten Blick. Angemessen, wenn man bedenkt, dass beim Nähen eines Maßanzugs noch sehr viel Handarbeit erforderlich ist. Ein bisschen stolz ist Willi Friedel schon darauf, dass er noch gebraucht wird und hin und wieder zu Nadel und Schere greifen darf. Doch er erkennt wehmütig: Nicht nur er selbst ist älter geworden, sondern auch seine Kundschaft, und die wird immer weniger.
Gerne erinnert sich Willi Friedel an die Zeit, als er für seinen Parteikollegen, den ehemaligen CSU-Landtagsabgeordneten Heinz Rosenbauer, die Anzüge genäht hat. Aber auch anderen prominenten Politikern ist er in seiner Funktion als Maßschneider sehr nahe gekommen. Einige "Geschichten" habe er auf diese Weise mitbekommen, deutet Friedel an. "Die erzähle ich aber besser nicht und schon gar nicht der Presse", besinnt er sich und lächelt süffisant. Auch Schneider haben Schweigepflicht.
Auch wenn es in der Marktgemeinde keine Kleiderfabriken mehr gibt, ganz so sang- und klanglos abgetreten sind die Schneider keineswegs. Fachkräfte werden nach wie vor gebraucht, weiß auch Matthias Aull, der als Maßschneider arbeitet. Sein Vater hatte einst in Frammersbach die gleichnamige Kleiderfabrik in der Hofreith gegründet. Das Bekleidungshaus Mill im Wiesenfurt bietet ebenfalls noch maßgeschneiderten Bekleidungsservice an. Auf den computergesteuerten Bodyscanner, ein digitales Verfahren zum Vermessen des menschlichen Körpers, können die Frammersbacher Fachleute verzichten.