Er sieht skurril aus und hat Seltenheitswert: Der Waldrapp zählt zu den am stärksten bedrohten Vogelarten weltweit. Im Marktheidenfelder Stadtteil Eichenfürst (Lkr. Main-Spessart) macht einer dieser schrägen Vögel nun offensichtlich Urlaub. Alleine. Mitten auf dem Golfplatz. Inklusive Kräuterwiesen-Futter.
Der Punker auf dem Strommast
Zum Schlafen fliegt der Punker der Vögel auf einen Strommast und macht es sich dort bequem. Nicht gerade ungefährlich, aber, so sagt der ortsansässige Falkner Walter Reinhart auf Anfrage dieser Redaktion, „anscheinend weiß er, wie es geht“. Immerhin geht von Hochspannungsmasten eine der größten Gefahren für Vögel aus.
Ein Leser hatte dieser Redaktion ein Foto des seltenen, gänsegroßen Schreitvogels geschickt, der in Deutschland normalerweise nicht in freier Natur lebt. Die Recherche führte zunächst zum Wildpark Bad Mergentheim, in dem man Waldrappe bewundern kann. War er dort ausgebüchst? Weggeflogen ins 50 Kilometer entfernte Marktheidenfeld? Für Vogelexperte Hartwig Brönner, Vorsitzender des Kreises Main-Spessart im Landesbund Vogelschutz, war das auf Anfrage zunächst die wahrscheinlichste Lösung des Rätsels.
Wilderer in Italien schießen Vögel ab
Brönner hatte im März erstmals auf einer „Birding-Tour“ durch Spanien wild lebende Waldrappe gesehen, ist fasziniert von den Vögeln, die bis ins 17. Jahrhundert hinein in Mitteleuropa heimisch waren, dort aber wegen Überjagung verschwanden. Auch heute noch, trotz des weltweiten Bemühens um den Erhalt der Vogelart, schießen vor allem Wilderer in Italien auch Waldrappe rücksichtslos ab.
Im Wildpark in Bad Mergentheim indes weiß man das Tier, das zu den Ibisvögeln zählt und ein Körpergewicht von einem bis eineinhalb Kilo erreicht, zu schätzen: „Es findet eine Brut pro Jahr in den Monaten März bis Juni mit zwei bis vier Eiern statt“, heißt es dort. „Waldrappen leben normalerweise in Kolonien von mehreren Dutzend und brüten in Felsnischen. Deshalb wurde beim Neubau des Waldrappgeheges auch eine Felswand aus 500 Tonnen Steinen gebaut!“
Europäisches Waldrapp-Projekt
Die Europäische Union fördert die Wiederansiedlung im Rahmen des Life+Förderprogramms. Bis 2019 soll der Waldrapp wieder ein heimischer Zugvogel werden. In Bayern ist seit der Bayerischen Landesgartenschau 2004 Burghausen mit der weltweit längsten Burg ein Standort eines der europaweit geförderten Waldrapp-Projektes.
Derzeit leben in Bayern und Österreich in den wiederangesiedelten Waldrapp-Kolonien etwa 113 Tiere. Auch Überlingen am Bodensee wurde als Standort ausgewählt, weil es historische Nachweise gibt, dass der Waldrapp hier im 17. Jahrhundert siedelte.
Vogelfrei in Unterfranken
Dass nun ein frei lebender Waldrapp Urlaub in Unterfranken macht, ist mehr als ungewöhnlich, meint Falkner Walter Reinhart. Und er kann seine heimliche Freude kaum verbergen, dass er den Vogel schon höchstpersönlich und vor zwei Monaten erstmals auf dem Golfplatz gesichtet hat. Seitdem beobachtet er „seinen“ Waldrapp behutsam und regelmäßig. Es war das erste Mal, dass der Vogel-Experte ein wildes Exemplar gesehen hat.
„Es hieß, da sei sein Schwarzstorch auf dem Golfplatz, als ich dann dort hinkam, traute ich erst meinen Augen kaum. Das war schon toll.“ Reinhart vermutet, dass es einer der Zugvögel aus Überlingen sein könnte, der einen Abstecher von der Flugroute gemacht hat. „Ich nehme an, dass er im September wieder gen Süden fliegt. Er könnte das alleine, vielleicht schließt er sich aber Artgenossen an.“ Bis dahin genießt der Waldrapp frei wie ein Vogel sein wildes Leben in Unterfranken.