Der Fall grenzt an ein Wunder: Während unzählige Insassen von Heilanstalten in der Zeit des Nationalsozialismus umgebracht wurden, überlebte der Mediziner Dr. Leonhard W. die Jahre in der Lohrer Heil- und Pflegeanstalt. Während außerhalb der Mauern der Anstalt mit Regimekritikern kurzer Prozess gemacht wurde, schimpfte der Patient W. in Lohr in einem fort auf Adolf Hitler und die NSDAP. Die Lohrer Anstalt nannte W. immer nur „Heil-Hitler- und Pflegeanstalt“.
Nach Kriegsende blieb der aus Alzenau stammende ehemalige Speyerer Stadtarzt W. jedoch im heutigen Bezirkskrankenhaus (BKH). Erst 1959, inzwischen 71 Jahre alt und 21 Jahre nach seiner Einlieferung, kam er frei – stürzte aber nur drei Tage nach seiner Entlassung bei einer Bergwanderung in Begleitung seiner Schwester in Österreich in den Tod. Wurde er gestoßen? Vielleicht weil seine Schwester ihn nicht bei sich zu Hause in Alzenau aufnehmen wollte?
2009 erschienenes Buch „Der Glückliche“
Der hoch interessante Fall wäre heute vergessen, hätte nicht die Schriftstellerin Roswitha Quadflieg nach rund zweijähriger Recherche in den verschiedensten Archiven und nach Gesprächen mit Angehörigen W.s und mit Betrauten, die den Fall kannten, vor zehn Jahren das Buch „Der Glückliche“ veröffentlicht. Weil sie den Angehörigen Anonymität zugesagt hatte und nur durch sie Einsicht in Akten nehmen durfte, wird der richtige Name der Familie im Buch nicht genannt, Dr. Leonhard W. heißt im Buch zudem „Dr. Leopold Wagner“.

Der 2007 gestorbene Rechtsanwalt Eberhard Fellmer hatte Roswitha Quadflieg auf den Fall W. aufmerksam gemacht. Fellmer habe sich bis zuletzt für Wiedergutmachung an Opfern des Nazi-Regimes eingesetzt. Als solches sah er auch den Speyerer Stadtarzt W. Dessen Sohn war laut Quadflieg der festen Überzeugung, sein Vater sei zu Unrecht wegen Schizophrenie eingesperrt worden. W. sei ein „völlig klar denkender Mann“ gewesen, so der Sohn. Das war er aber offensichtlich nicht.
Ehe bald zerrüttet
W., 1888 in Alzenau geboren, im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet und ab 1921 als Stadtarzt in Speyer tätig, heiratete 1928 die 17 Jahre jüngere Tochter eines Hamburger Teppichhändlers, mit der er in rascher Folge fünf Kinder bekam. Die Ehe muss bald zerrüttet gewesen sein, W. ließ seine Frau wegen angeblicher Seitensprünge beschatten, sie beschuldigte ihn der sexuellen Gewalt. Bereits 1936 enterbte er sie, was sie erst später erfahren sollte.
„In der Familie W. gab es nur Streit und Missgunst. Alle waren miteinander verfeindet, unterstellten sich Ungeheures und keiner sprach mehr mit dem anderen“, resümiert Roswitha Quadflieg im Gespräch ihren Eindruck von der Familie, der auch im Buch sehr deutlich wird.
W., in Speyer zugleich Stadtrat, soll in der Bevölkerung beliebt gewesen sein, schaffte sich durch sein undiplomatisches Auftreten aber immer neue Feinde, vor allem im rechten Lager. Im Sommer 1933 eskalierte es: Der größte Widersacher W.s, der Speyerer Kohlenhändler und Fraktionsvorsitzender der NSDAP im Stadtrat Karl Delobelle, ordnete die Kürzung der Bezüge des Stadtarztes an. Als W. ihn daraufhin in einem Schreiben an die Regierung der Pfalz als einen „mit Größenideen behafteter sadistischen Psychopathen“ bezeichnete, der eingewiesen gehöre, wurde er verurteilt und erhielt er zum 31. Dezember 1933 seine Kündigung - „ohne Entschädigung und Pension“.
Trotz Arbeitslosigkeit zu Vermögen gekommen
Der gebürtige Alzenauer bekam als Arzt keine Stelle mehr, war ohne Einkommen. Mitte der 1930er überwarf er sich zudem mit seinem Onkel und Ziehvater, der W. erst zum Alleinerben ernannt, dies aber dann widerrufen hatte. Stattdessen wurde W. von ihm ausbezahlt. Mit dem Geld spekulierte W. an der Börse, wodurch sein Vermögen bald auf stattliche 250 000 Goldmark anwuchs, das er in Sachwerte - darunter Bücher, Porzellan, Gemälde, Schmuck - investierte. W.s Frau, seine Mutter, habe sich alles unter den Nagel gerissen, behauptete der Sohn W.s Quadflieg gegenüber.

W. wollte offenbar nach Russland emigrieren, was ihm jedoch nicht erlaubt wurde. Außerdem wollte er in seiner Heimat, in Aschaffenburg, eine neue Arztpraxis aufmachen. Bevor es dazu kam, soll er jedoch im September 1938 zu zwei Steuerfahndern gesagt haben: „Adolf Hitler und das Finanzamt können mich am Arsch lecken!“ Ein amtsärztliches Gutachten des Landgerichtsarztes attestierte W. im Oktober 1938: „Geistig besteht bei dem Untersuchten ein systematischer Wahn, der Bischof von Speyer habe Hitler veranlasst, bei der Curie in Rom das Versprechen abzugeben, ihn, den Dr. W., mit allen Mitteln zu verfolgen, zu schikanieren und überall unmöglich zu machen.“
Als „gemeingefährlicher Geisteskranker“, der an paranoider Schizophrenie litt, wurde er am 2. Dezember 1938 in Lohr eingewiesen. Die Kinder erfuhren von ihrer Mutter jahrelang nichts über das Schicksal des Vaters.
Direktor riet Frau von Entlassung W.s ab
In einem Brief, den Quadflieg zitiert, riet der damalige Direktor W.s Frau davon ab, W. zu Hause bei sich aufzunehmen, da er ihr wie auch Regierung und Partei gegenüber feindselig eingestellt sei, „so dass es recht unwahrscheinlich ist, dass es mit Ihrem Manne ausserhalb der Anstalt gutgehen dürfte“. Die Einweisung bewahrte ihn wahrscheinlich vor dem KZ.
In Lohr hat W. ständig Notizen in Hefte gekritzelt. 1947 hat er über die Kriegsjahre geschrieben haben: „Ich wurde nicht müde, immer und immer wieder zu betonen, dass Hitler ein Vaterlandsverräter sei, der das ganze deutsche Blut dem Papsttum für seinen russischen Kreuzzug geopfert und selbst den römisch-katholischen Fürstentitel versprochen bekommen habe.“
W. als Störenfried in Lohr
Im Bericht der Nachtwache vom 12. Januar 1940 heißt es: „Wiederholt störte Dr. W. die Nachtruhe seiner Saalgenossen durch absichtliches Husten, Schnarchen und lautes Schimpfen wie ,Hitlersau, alte Sau, Stinkschwein‘.“ W. gab in seinen Notizen zu, dass er Pfleger immer wieder gereizt und dafür Prügel bekommen habe. Die Foltermethoden der Pfleger nannte er „Durchbiegen“, „Maulkneten“ und „Wachrütteln“.
Zitiert wird im Buch auch ein ehemaliger Arzt, der ab Anfang 1957 bis Mitte der 1960er Leiter des BKH Lohr war. W. nannte der Mediziner „humorvoll, nicht dumm“, die täglichen Unterhaltungen seien amüsant gewesen. W. habe Russisch gelernt, Klarinette geübt, Karten und Schach gespielt. Er habe aber auch laut und aggressiv werden können. Im BKH sei er beliebt gewesen.
Tochter enttäuscht vom Vater
Seine Tochter erzählte der Schriftstellerin, dass sie ihn 1946 in Lohr besucht habe. Zunächst habe ihr Vater geschwiegen, aber dann laut und grob auf den Papst, die katholische Kirche, auf seine Frau und die Kinder geschimpft. „Ein hässlicher Wortschwall, der da, wie mir schien, völlig unkontrolliert aus ihm herausbrach“, wird die Tochter zitiert.
Hatten ihn die Nazis seelisch so zerrüttet? Aus Briefen, die W. als junger Mann an eine Freundin geschrieben hat, habe man schon sehen können, dass W. „abartig und nicht ganz richtig im Oberstübchen gewesen war“, so Quadflieg. In seiner Krankenakte steht zu lesen: „Er redet völlig ungeniert über seine sexuellen Bedürfnisse.“ Und die waren offenbar eher perverser Natur. Quadfliegs Fazit: „So ein Mensch ist einem selbstverständlich nicht sympathisch, aber die Räder der Zeitgeschichte, unter denen er zermalmt wurde, lassen Mitleid aufkommen.“
Den „Glücklichen“ nennt sie ihn, weil er immer überlebt hat, was auch den im Buch zu Wort kommenden ehemaligen BKH-Leiter Professor Dr. Gerd Jungkunz sehr wunderte. Womöglich hatte seine Schwester, Oberin der NS-Schwesternschaft im Gau Franken, ihre schützende Hand über ihn gehalten.
Wie kam W. zu Tode?
Kaum war W. entlassen, stürzte er am 1. August 1959 bei einer Wanderung von Neustift nach Bärenbad im Stubaital in felsigem Gelände tödlich ab. Wurde er von seiner Schwester gestoßen, ist er gesprungen oder abgestürzt? Im Buch kommen verschiedene Sichtweisen zu Wort.
W.s Sohn erhielt nach dem Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts an Angehörigen des öffentlichen Diensts als Alleinerbe seines Vaters eine Entschädigung zugesprochen. 2003 bekam er außerdem 15 500 Schweizer Franken für ein 1945 existierendes Schließfach bei einer Schweizer Bank ausbezahlt.
Das Buch „Der Glückliche. Roman zu zehn Stimmen“ ist 2009 im Stroemfeld Verlag erschienen und hat 136 Seiten. 2012 hat Roswitha Quadflieg aus dem Stoff ein Hörspiel gemacht, das 2012 vom WDR erstausgestrahlt wurde.