Helga Meyer (Name von der Redaktion geändert), Ende 20, lebt in ständiger Panik: Ist die Haustüre auch wirklich zu? Habe ich den Wasserhahn zugedreht? Sind meine Kleider sauber? - Ständig ertappt sich die junge Frau bei der Kontrolle von Haus und Haushalt. Und ständig muss sie sich die Hände waschen, weil alles so schmutzig ist.
Schon seit Jahren leidet Helga Meyer unter diesen Kontrollzwängen, hält sie aber vor Familie und Freunden geheim, weil sie selbst ihre Handlungen als überflüssig, unsinnig und beschämend empfindet. Doch bei einem Urlaub mit den Freunden wird alles plötzlich schlimmer.
Die Zwänge nehmen zu, dauern länger an und lassen sich kaum noch verheimlichen. Ihre ritualisierten Handlungen fallen auf; wenn sie sie unterdrückt, leidet sie unter heftigen Angstzuständen. Die Angst gipfelt in den Vorstellungen, sich oder anderen etwas anzutun.
Verzweiflung
Nach der Rückkehr aus dem Urlaub ist Meyer völlig fertig. Sie kann nicht mehr zur Arbeit gehen und ist so verzweifelt, dass sie öfter daran denkt, sich das Leben zu nehmen. Sie beschließt, sich im Lohrer Bezirkskrankenhaus (BKH) für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie stationär behandeln zu lassen.
In der Psychiatrie erzählt die Patientin ihre Lebensgeschichte: Helga Meyer ist aus einer ungewollten Schwangerschaft unehelich geboren. Aus ihrer Kindheit sind ihr keine Besonderheiten bekannt. Sie weiß nur, dass sie alle Anordnungen ohne Aufbegehren befolgt hat. In der Schule war sie fleißig und zuverlässig. Schon damals hat sie immer ihren Schreibtisch ordentlich aufgeräumt, die Hefte gerade ausgerichtet, die Schubladen geschlossen und den Abfall jeden Abend beseitigt. Helga Meyer lebt auch heute noch zu Hause bei ihrer Mutter. Das Verhältnis zu ihr beschreibt sie als seit früher Kindheit sehr innig. Die Mutter habe sich immer um sie gesorgt und versucht, mit ihrem Kind ein zurückgezogenes Leben zu führen. Sie sei arbeitsam und fleißig und habe ihre Tochter immer zur Ordnung angehalten. Helgas Mutter hatte den Ehrgeiz, sich und das Kind ohne fremde Hilfe durchzubringen. Sie habe sich kaum etwas gegönnt, weder neue Kleider noch Urlaub noch sonstige Vergnügungen.
Trostlosigkeit
Erst während der Ferien - im Kontakt mit anderen Jugendlichen - hat Helga Meyer die Beschränktheit und Trostlosigkeit ihres bisherigen Lebens erkannt. Sie sehnte sich nach Freundschaft, Spontaneität und Lebendigkeit. Daraufhin hat sich Helga Meyer gegen ihre strengen Lebensbedingungen aufgelehnt, gleichzeitig aber verunsichert gefühlt und eine Zunahme der Zwangssymptome festgestellt.
In einer tiefenpsychologisch orientierten Einzel-Psychotherapie im BKH kann sie nun über ihre Zwänge reden und sie zu ihrer Lebensgeschichte in Beziehung setzen. In einem Familiengespräch spricht sie erstmals offen darüber, dass sie unehelich geboren worden ist.
Es stellt sich heraus, dass ihre Mutter erhebliche Schuldgefühle entwickelt hatte, sich deswegen zurückzog und selbst unter depressiver Verstimmung und mangelndem Selbstwertgefühl litt. In diesem Milieu aufgewachsen, hat die Patientin selbst ein Gefühl von Schuld und Unwertsein übernommen.
Sie fühlt sich von Geburt an schmutzig und denkt, dass dieser Schmutz auf alles übergeht, was sie berührt. Sie glaubt, von anderen nur geachtet zu werden, wenn sie ein perfektes Leben ohne Fehl und Tadel führt.
Therapie
In der Therapie lernt Helga Meyer, die Zusammenhänge zwischen den Zwängen und ihrer Lebensgeschichte zu verstehen. Vor allem in der Musiktherapie lernt sie, spontan zu sein. In der Reittherapie befasst sie sich mit "unsauberen" Gegenständen und Tieren, ohne sich sofort waschen zu müssen. Schließlich erlebt sie Freude an lebhaften, fast wilden Bewegungen im Spiel.
Nach einer Stabilisierung kann die Patientin in eine ambulante psychotherapeutische Behandlung entlassen werden. Die Behandlung mit Anti-Depressiva muss allerdings zunächst fortgesetzt werden.