Die Familie entschied sich für einen Weg, den sich viele Angehörige und Betroffene wünschen, der aber die meisten Menschen überfordert: Sie pflegten die Mutter daheim. Erst spät nahmen sie die Hilfe des Hospizvereins Würzburg in Anspruch. Heute ist Regina Ulbrich selbst Hospizhelferin bei der Regionalgruppe Gemünden-Lohr und begleitet mit ihren Erfahrungen andere Menschen.
Die Tür geht auf und da steht sie: Hospizhelferin Angelika Remelka. Ein Rettungsanker für Regina Ulbrich. Es ist seit Monaten der erste Moment, in dem sie wieder durchatmen, Luft holen, den Kopf frei bekommen kann. „Sie hat mich gesehen und in den Arm genommen“, sagt Regina. Auch nach vier Jahren kommen die Tränen hoch. Eine fremde Frau steht vor der Tür und nimmt sie in den Arm. Bereits ein halbes Jahr pflegt Regina zu diesem Zeitpunkt ihre todkranke Schwiegermutter. Drei Kinder und der Haushalt laufen nebenher. Der Mann muss arbeiten. „Ich kann nicht mehr“, denkt Regina häufig, aber es geht immer weiter.
Erst nachdem sie selbst krank und die Pflege zu einer 24-Stunden Betreuung wird, bittet sie den Hospizverein Würzburg um Hilfe: „Wir hätten es ohne Angelika nicht geschafft.“ Das Krankenhaus war für die Schwiegermutter das Schlimmste.
Als der Krebs bei ihr diagnostiziert wird, bekommt sie Bestrahlungen. Jedes Wochenende holen die Ulbrichs sie heim nach Sendelbach. Von den Ärzten erfahren sie nichts. Lapidar wird gesagt: „Es geht ihr doch jetzt gut.“ Nur die Schwestern kümmern sich wirklich. Als die Ulbrichs die Schwiegermutter im Dezember nach Hause holen, sagt eine Schwester: „Feiern Sie noch einmal schön Weihnachten.“
Die Zeit, die nun folgt, nennt Regina im Nachhinein eine „gute und wertvolle Zeit“. Ihre Schwiegermutter war eine sehr agile Frau, immer selbstständig. Das Verhältnis der beiden war früher nicht das beste. Durch die Krankheit ändert sich auch das. Die 73-Jährige vertraut sich ihrer Schwiegertochter an, wird Teil des Familienlebens. Das Pflegebett steht mitten im Wohnzimmer, die Kinder spielen Flöte, lesen Geschichten, die Ulbrichs versprechen ihr, dass sie dort bleiben kann. Eine zeitlang geht alles gut.
Familienstruktur bricht zusammen
Im Februar wird Regina selbst krank – Bandscheibenvorfall. Sie muss operiert werden und kommt in die Reha. Ohne sie bricht die Struktur in der Familie zusammen. Jürgen muss arbeiten, die Kinder und seine kranke Mutter sind zu Hause. Eine Familienhelferin der Caritas überbrückt die Situation. Aber die Schmerzen der Schwiegermutter werden immer stärker. Im April wird es trotz Morphinpflaster und Tabletten so schlimm, dass sie ins Krankenhaus muss. Die Ärzte verweisen sie auf die Palliativstation im Würzburger Juliusspital. Hier herrscht keine Krankenhausatmosphäre. Die Räume sind hell und groß, Angehörige können auf den Einzelzimmern mitübernachten, manche feiern sogar Hochzeit. „Und hier wurde zum ersten Mal Klartext geredet. Die Worte Krebs und Tod wurden ausgesprochen. Es gibt keine Tabus und das tat gut“, sagt Regina Ulbrich.
Die Schwiegermutter aber rebelliert. Sie will ihre Krankheit nicht wahrhaben und so schnell wie möglich wieder nach Hause. Nach der Schmerzeinstellung holen die Ulbrichs sie zurück. Das Karzinom wuchert weiter und die Situation daheim läuft zunehmend aus dem Ruder. Die Schwiegermutter rebelliert, nimmt keine Hilfe mehr an. Manchmal schreit sie nachts so laut vor Schmerzen, dass sich die Kinder die Ohren zuhalten. Wenn Regina Ulbrich nicht weiter weiß, läuft sie ums Haus, nur um rauszukommen. Eines morgens schlägt sie die Zeitung auf und sieht die Nummer des Hospizvereins Würzburg. Sie ruft an. Schon am Abend steht Angelika Remelka vor der Tür.
Von nun an kommt jeden Tag einer von drei Hospizhelfern vorbei. Für ein bis zwei Stunden entlasten sie Regina Ulbrich. Eine kostbare Zeit, die die dreifache Mutter nutzt. Mit der Pflege ihrer Schwiegermutter ist sie gewachsen. „Sie war zum Schluss eine Drei-Viertel-Krankenschwester“, sagt Remelka, die selbst Krankenschwester im Ruhestand ist. Ein normaler Mensch, sagt sie, hätte die Situation nicht ertragen. Die Pflege des Karzinoms war aufwändig. Das Leiden der Schwiegermutter zu sehen, ohne helfen zu können, ging an die Substanz. „Ich hätte die Hilfe viel früher annehmen sollen“, sagt Regina Ulbrich heute. Was genau sie daran gehindert hat, kann sie nicht erklären. Vielleicht wolle man sich die Schwäche nicht eingestehen, dass man es alleine nicht schafft.
Die letzten zehn Tage ist Angelika Remelka jeden Tag da. Die Schwiegermutter bekommt eine Morphinpumpe und fällt ins Koma. Immer nachts wacht sie auf, ist für eine Stunde ansprechbar. Sie ordnet ihre Sachen. Dagegen hat sie sich monatelang gesträubt. Regina und Jürgen schlafen auf dem Sofa, um bei der Mutter zu sein. Jeden Tag, jede Stunde warten sie auf den letzten Atemzug. Remelka steht ihnen bei. „Manchmal stand ich am Türrahmen, habe mich festgehalten und gesagt ,Ich kann nicht mehr‘. Dann kam Angelika und hat mich aufgemuntert. Sie sagte: ,Wir schaffen das‘.“
Der Glaube gab Kraft
Im Mai stirbt die Schwiegermutter. Remelka aber kommt auch am nächsten Tag wieder. Sie hilft beim Gestalten der Beerdigung, erklärt den Ulbrichs, dass sie sich Zeit für den Abschied nehmen können. „Wir hätten das alles nicht gewusst und da war jemand, der weiß, wie Sterben geht“, sagt Regina Ulbrich. Heute ist das Ehepaar froh, die Schwiegermutter bis zuletzt selbst gepflegt zu haben. Sie hätten sich sonst Vorwürfe gemacht. Regina Ulbrich hat der Glaube Kraft gegeben. Ein Jahr nach dem Tod ihrer Schwiegermutter begann sie ihre Ausbildung als Hospizhelferin. „Ich habe die Angst vorm Sterben verloren. Krankheiten können schlimm sein, aber es gibt immer Menschen, die helfen“, sagt sie. Man müsse die Hilfe nur annehmen. Jetzt will sie etwas von dem, was sie bekommen hat, zurückgeben.