Vom März bis Juli 2019 habe ich Bad Neustadt und die Saaletalklinik zur Frühlings- und Sommerzeit erlebt und an dieser Stelle darüber im August berichtet. Eine erneute Hinwendung zu geistigen Getränken und der nun das zweite Mal unternommene, hoffentlich erfolgreiche Versuch, durch eine "Auffrischungstherapie" - so die amtlich korrekte Bezeichnung - das Vertrauen und den Kontakt zu meiner nun 17 -jährigen Tochter und deren 14-jährigen Schwester wieder zu gewinnen, führte mich Ende Oktober erneut in die Saaletalklinik. Unter der Leitung von Dr. Helmut Röthke vermittelt diese - trotz ihrer mehr als 150 Patienten - selbst in menschlichen Krisenzeiten ein Stück Geborgenheit, was nicht zuletzt an dessen ruhiger, väterlich-beharrlichen und bestimmenden Persönlichkeit liegt.
Dr. Röthke - des Zauberbergs zweiter Teil
Dr. Helmut Röthke ist ein Mediziner alter Schule, der seine vorangegangene Tätigkeit als Militärarzt nicht leugnen kann. Mich erinnerte er vielleicht schon deshalb bereits im Sommer mit seiner sonoren Stimme an den Sanitätsrat Behrens, wie ihn Thomas Mann in seinem "Zauberberg" zeichnet.
Ich musste mich diesmal auf Weihnachten und Silvester in Bad Neustadt an der Saale einstellen, was nicht leicht war, sind doch diese Feste eng mit dem eigenen Zuhause und mit vertrauten Menschen verbunden. Um es gleich vorwegzunehmen, ich habe es nicht bereut. Ist der Sommer die Zeit des "Draußenseins", so spielt sich das Leben im Herbst und Winter doch zunehmend im Innenraum ab, was dazu führt, dass sich die Menschen einander näher begegnen und wie die Küken im Nest eng zusammenrücken. So war es mir möglich, Bad Neustadt und seine Bewohner aus der winterlichen Perspektive zu erleben und den Jahreslauf 2019 in dieser gemütlichen Stadt abzuschließen.
Das Café Avanti am Marktplatz
Das Café Avanti auf Bad Neustadts Piazza, dem schönen, von historischen Häusern umrahmten Marktplatz, war auch in meiner zweiten Therapie-Runde der Stützpunkt für meine sentimentalen Erkundungen, nur dass dort im Winter die Gäste aufgrund der räumlichen Begrenztheit noch enger zusammenrücken als die bereits erwähnten Küken im Nest. Vorbei der traumhafte Sommer mit seinen italienischen Temperaturen, als das Avanti sich mit Stühlen, Tischen und einer kunterbunten Gästeschar auf dem Marktplatz ausbreitete. Aber auch die räumliche Begrenztheit im Herbst und Winter hat durchaus Vorteile. Im kleinen Avanti habe ich so in den Spätherbst- und Wintermonaten viele Bad Neustädter kennengelernt und sie buchstäblich auf Tuchfühlung erlebt, wie die sogenannten face-to face-relations den Urgrund eines herzlichen sozialen Miteinanders bilden, einer Lebensqualität und Geborgenheit, die man in großen Städten eher selten findet.
Brücke im Gegenlicht
Eine ausgesprochen schöne, junge Mitpatientin mit strahlenden, saphirblauen Augen, die ein reizendes Bayerisch spricht und über Esprit, Charme sowie ein mitfühlendes Herz verfügt, bereicherte meinen winterlichen Aufenthalt ganz ungemein, der auch zu einer sentimentalen Reise in den kürzlich erlebten hiesigen Sommer und damit in die eigene jüngste Vergangenheit mit ihren gescheiterten Zielen und Hoffnungen wurde, die sich hier in winterlicher Atmosphäre ins Gegenlicht setzten.
Geradezu als Sinnbild meiner erneuten Therapie und der damit verbundenen Erwartungen sah ich die alte Brücke aus dem Jahre 1607, die einst die Saale überspannte und seit 1970 am Rand des Schlossgartens eine neue Heimat fand. Ist doch jede Brücke immer ein Symbol des Überganges und der Verbindung und hat deswegen bei aller Zweckdienlichkeit auch einen transzendenten Aspekt. Nicht umsonst hieß der höchste Priester im alten Rom Pontifex Maximus, also oberster Brückenbauer, ein Titel, den auch das Papsttum für sich in Anspruch nimmt. An einem sonnigen Frostmorgen im Dezember waren wunderschöne, klare Sonnenstrahlen über dem altehrwürdigen Bauwerk zu sehen, so dass ich völlig gebannt war, ein Photo für eine Weihnachtskarte für einen lieben Menschen schoss und erst durch den Hinweis jener bereits erwähnten jungen Dame mit Charme feststellte, dass diese Brücke im Gegenlicht auch symbolhaft für unseren Therapieaufenthalt sein kann - und das nicht nur für mich allein, sondern für die Rehabilitanten der Saaletalklinik. "Miss Saphirblau" hat dann auch die Photographie in ihrer Gruppe als Mutmacher ihrem Neujahrsgruß beigefügt.
Weihnachtsstimmung in Salz
Besonders stimmungsvoll war ein gemeinsamer Gang in die Kirche zu Salz, wo uns eine sehr schöne Krippe mit dem ins Fränkische übertragenen Weihnachtsgeschehen erwartete. Warf man nun zehn oder zwanzig Cent in den Schlitz, so erwachte zu weihnachtlichen Weisen das Leben in der Krippe und ein kleiner Wasserfall erfüllte den Kircheninnenraum mit einem heimeligen Rauschen. Bemerkenswert ist die Größe dieser Kirche, an der noch ihre vorromanischen Anfänge sichtbar sind. Bei einem Spaziergang nach Salz erhielt ich dort von meinen englischen Freunden über WhatsApp die begeisterte Nachricht vom Sieg Boris Johnsons, wobei ich daran denken musste, dass das kleine Salz als fränkische Residenz der Karolinger einst ein Zentrum des westlichen Kontinentaleuropas gewesen war. So verknüpfte sich mit dieser Nachricht von der Insel auf besondere Weise das tagespolitische Ereignis mit der historischen Aura des Ortes. Schon den Dichter Joseph Victor von Scheffel faszinierte die auratische Präsenz Karls des Großen in Salz, als er im Sommer 1878 ein gewaltiges Gewitter auf der Salzburg erlebte, die damals als die Burg des Kaisers galt. Es ist eben kein weiter Weg von London nach Salz, zumindest nicht für einen Historiker.
Zu Gast bei Mozart, Haydn & Co.
Unterhalb der Klinik liegt das alte Bad Neuhaus, von dem die Stadt Neustadt einst ihr Prädikat Bad erbte. Ein pittoresk verfallenes Haus mit der Jahreszahl 1794 erregte mein Interesse. Es war das Jahr des "grand terreur", als die Guillotine in Paris reichlich zu tun hatte und die Revolution mit Danton und Robespierre schließlich ihre Kinder fraß. Solch weltgeschichtlichen Betrachtungen sind in Neuhaus ganz an ihrem Platze. Geht das Ensemble von Schloss, Park und Schlosskirche doch auf Egid von Boiré zurück, der sich hier einen Familienmittelpunkt schuf und schließlich einer der einflussreichsten Berater der Kaiserin Maria Theresia in Wien war und die Geschichte nachhaltig gestaltete.
Die Schlosskirche ist mit ihrer sparsamen spätbarock-klassizistischen Ausstattung ein verborgenes Juwel der aufklärerisch gestimmten Frömmigkeit dieser Epoche, wie sie unter Kaiserin Maria Theresias Sohn Joseph II. bestimmend wurde und durch Mozarts Requiem und die Sakralkompositionen von Michael und Joseph Haydn bis heute lebendig geblieben ist. Schade, dass diese Kirche faktisch nur für Hochzeiten genutzt wird. Ich habe mir mittels meines IPhones beholfen und Michael Haydns Schrattenbach-Requiem ganz alleine für mich in diesem historischen Ambiente genossen und mir vorgestellt, wie es wohl sein würde, wenn man die Schlosskirche für Konzerte oder sogar für ein kleines Festival mit Sakralmusik des ausgehenden 18. Jahrhunderts nutzen würde. Lohnen würde es sich gewiss.
„Heute schon gekupscht?“
Was der Marktplatz im Sommer als Ort des sozialen Miteinanders ist, das bedeutet der Kupsch für die Innenstadt, der zwar seine Ware von einer großen Handelskette erhält, sich aber dennoch den Charme eines Tante-Emma-Ladens bewahrt hat. Hier sitzt der Inhaber oft höchst persönlich an der Kasse und ist mit vielen seiner Kunden auf Du und Du. Die Kassiererin erkannte mich von meinem Sommeraufenthalt wieder und fragte teilnehmend nach meinem Befinden, was mir äußerst wohl tat und Bad Neustadt für mich zu einer zweiten Heimat werden ließ.
Bei diesem Geschäft passt der Slogan des Hauses "Heute schon gekupscht"“ trefflich. "Kupschen" bedeutet nämlich keinesfalls bloßes Einkaufen, sondern ein Miteinanderumgehen. Dieser Laden macht einen wesentlichen Teil der Seele des Ortes aus und bietet für einen Nichtfranken wie mich einen Einblick in das unterfränkische Wesen. Denn zum Jahresende hörte ich hier zum ersten Mal im O-Ton den mir bis dahin unbekannten, typisch unterfränkischen Gruß "Ich wünsche einen guten Beschluss!".
Eine Sitzbank zum Verweilen, wie bei Kupsch unweit der Kasse aufgestellt, habe ich nirgendwo sonst gesehen. Diese warmen "Weihnachtsplätzchen" wurden mitunter auch von so genannten Tippelbrüdern genutzt, die sich hier – ob mit oder ohne Dosenbier in der Hand – nach frostigen Nächten ein wenig aufwärmten, was ausdrücklich gestattet ist. Ansonsten diente die Sitzbank der Kommunikation und manchmal zum Verzehr eines kleinen Imbisses. Jedes Mal wurde ich nach dem Zahlen mit einem herzlichen "Ich wünsche einen guten Tag" verabschiedet, wobei mir richtig "neustädterisch" warm ums Herz wurde.
Der kleine Raum des Avanti wurde in der Zeit des immer näher rückenden Christfestes immer mehr zum Treffpunkt unweit der auf dem Marktplatz temporär errichteten Alm, die mich - in ihrer Authentizität im Detail - immer wieder gedanklich in meine geliebten Berge nach Mittenwald und Tirol versetzte. Sogar das stille Örtchen dort gleicht denen der Bergalmen, was mich höchst entzückte. Die angegliederte Eisbahn erfreute sich regen Zuspruches und ist nicht nur wegen sehr moderater Preise ein köstliches Familienereignis.
Völlig an meine Kinderzeit in den Sechziger Jahren erinnernd, an die ich schon beim „Kupschen“ denken musste, gelangte ich bei meinen Streifzügen durch die Altstadt an ein grün gestrichenes, großes Einfahrtstor mit einem handgeschriebenen Schild, auf dem zu lesen war: "Weihnachtskarpfen vorbestellen! Verkauf nur am 23.12.19, Montag ab 9 Uhr." Hier hat also ein Einzelner die Initiative übernommen, diesen alten Weihnachtsbrauch nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, Bravo.
Langer Marsch nach Sankt Konrad
Die Heiligabend-Messe, die nun einmal unbedingt dazu gehört, erlebte ich mit einigen Mitpatienten in St. Konrad. Ich hatte mich auf mein Augenmaß aus der Vogelperspektive von der Stadtmauer aus verlassen, was sich als absoluter Trugschluss herausstellte und wir bei einem langen Fußmarsch erfahren mussten, dass Bad Neustadt weitaus größer und ausgedehnter ist, als ich zum Leidwesen meiner geduldigen Mitpilger angenommen hatte. Gott sei Dank gelangten wir am Heiligen Abend zwar nicht wirklich rechtzeitig, aber auch nicht völlig verspätet in die Saaletalklinik zurück.
Am ersten Weihnachtstag besuchte ich mit einer Mitpatientin die Karmelitenkirche, deren elegante Gotik und barocke Ausstattung einfach wunderbar sind. Hier hätte ich mir die zentrale Weihnachtsmesse gewünscht. Das Ganze wurde uns dann weihnachtlich und sakral vergoldet, als die Wintersonne den Hauptaltar erleuchtete und vom Propheten Elischa zur "santa casa", dem Haus der Gottesmutter Maria, wanderte, dem barocken Nachbau jenes Hauses in Nazareth und seit Jahrhunderten in Loreto beheimatet, in dem Maria die Botschaft des Erzengels Gabriel empfing.
Silvestertanz in der Almhütte
Silvester haben ich in Gesellschaft von Patienten in der Almhütte verbracht. Hier konnte ich die Bad Neustädter von ihrer ausgelassenen Seite bewundern und ihre fast schon ekstatische Tanzeslust erleben. Ein wenig bedauerte ich dabei meine eigene Tanzmuffeligkeit, die seit meiner Tanzschulzeit in den 70er Jahren immer ausgeprägter geworden ist. Deshalb fasste ich einen ersten Vorsatz fürs junge Jahr: mich daheim in München der Auffrischung meiner tänzerischen Fähigkeiten zu widmen. Wäre das vorher geschehen, so hätte ich mich gewiss mit der jungen Schönen - ja, die mit den saphirblauen Augen - auf den hölzernen Tanzboden gewagt.