Die Fünfzigerjahre waren meine Schulzeit am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium, das damals noch Oberrealschule hieß. Insofern war mein Leben in diesem Jahrzehnt stark vom Takt der Schule und ihren Verpflichtungen geprägt Daneben gab es aber noch ein zweites, sehr interessantes Leben.
Meine Mutter und mich verschlug es nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Egerland nach Gochsheim und Ende 1946 kam mein Vater aus französischer Kriegsgefangenschaft zu uns zurück. Anfangs wohnten wir auf einem Bauernhof und später in einem mit Eigenleistung erbauten Siedlungshäuschen der Gochsheimer Baugenossenschaft. In Gochsheim ging ich Ende der Vierzigerjahre in die Volksschule, wozu natürlich ebenfalls ein außerschulisches Leben gehörte. Insofern sehe ich meine gesamte Schulzeit als „langes Jahrzehnt“.
Waldstück für den Ackerbau
In den Nachkriegsjahren herrschte Mangel an Lebensmitteln. Aus diesem Grund stellte die Gemeinde Gochsheim den Heimatvertriebenen ein gerodetes Teilstück eines Waldes (Esbach) zur landwirtschaftlichen Nutzung für einige Jahre zur Verfügung. Dort mussten allerdings erst die Wurzeln der gefällten Bäume aus dem Boden gegraben werden – ein ordentliches Stück Arbeit. Weil aber das Wurzelholz besonders dicht ist, versorgte es uns gleichzeitig mit vorzüglichem Brennholz.
Auf der nutzbaren Fläche bauten wir dann so ziemlich alles an, was ein kleiner Haushalt benötigt – einschließlich ordnungsgemäß versteuerter Tabakpflanzen für meinen Vater. Neben der Mithilfe beim Pflanzen, Ernten und Bewässern – die zu dieser Zeit noch vorhandenen „Bombentrichter“ hatten sich zu Libellen-umschwirrten Tümpeln entwickelt, aus denen man das Wasser holen konnte – war der umliegende Wald für uns Jüngere ein riesiger Abenteuerspielplatz fernab jeglicher Gefährdung durch Verkehr.
Die Dorfstraße als Spielplatz
Die landwirtschaftliche Selbstversorgung auf gepachteten Äckern wurde später durch Kleintierhaltung ergänzt. Auf dem Gelände unseres Siedlungshäuschens hielten wir Hühner und abwechselnd Enten und Gänse. Bei den Gänsen oblag mir die Aufgabe, das Federvieh in den nahe gelegenen Weiher (Schöppeneller) zu treiben, dort zu hüten und auch wieder unbeschadet heimzubringen. Da dies nicht allzu schwierig war, konnten wir Freunde mit ähnlichen Aufgaben unsere Zeit am Weiher mit Spielen aller Art verbringen – zum Beispiel Wettfahrten mit selbst gebastelten Modell-Segelschiffen. Außerdem schauten wir Aquariumbesitzern beim Käschern von Wasserflöhen als Lebendfutter zu und begutachteten ihre Ausbeute.
Damals waren die Straßen größtenteils noch nicht asphaltiert, und der Verkehr beschränkte sich im Wesentlichen auf langsame landwirtschaftliche Fahrzeuge. Straßen und Plätze waren daher ideale Spielflächen. Wir Kinder konnten fast überall Löcher für Schusserspiele (Murmelspiele) in den Boden buddeln oder mit einem Stock die Kreise für das Spiel „Kaiser, König, Herzog, Graf, Edelmann, Bettelmann“ und für „Himmel und Hölle“ in den Boden kratzen.
Die Fläche vor der großen Wand einer Scheune ließ sich leicht in immer größer werdende Teilstücke für das „Rausschießen“ – natürlich nur mit dem Ball – einteilen. Die Außenwände von Scheunen waren überhaupt wunderbar geeignet für Ballspiele mit steigendem Schwierigkeitsgrad, und die meist offenen Bauernhöfe waren hervorragende Plätze für Versteckspiele.
Zur Person
Anton Bayer (hier im Alter von 19 Jahren) kam 1946 als Sechsjähriger mit seiner Mutter aus Klemensdorf (Tschechien) nach Gochsheim. Dort besuchte er die Volksschule, dann die Oberrealschule in Schweinfurt, studierte nach dem Abitur Physik, promovierte, wurde Professor an der Uni Karlsruhe. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und heute im Ruhestand. In unserer siebenteiligen Serie erinnert er sich an „Mein Leben neben der Schule“ – in den Fünfzigerjahren.