Wie forsch Andree Solvik als Peer Gynt auftrat, damals. Auch seine Debütrolle als Steve in „Der Falke“, 1998 im Meininger Georgie's Off, werde ich nicht vergessen. Als spielte er keine Figur, sondern sich selbst. „Und hinter Nüchternheit und Kälte der Fassade eines jungen Mannes“, stand damals in der Main-Post, „entdeckt man die ewige Geschichte vom verlorenen Paradies – so zart, poetisch und so wahr, dass einem zum Heulen zumute ist.“
Andree Solvik, norwegischer Staatsbürger, aufgewachsen im schwedischen Karlstad, 1982, als er zehn war, mit Mutter und Bruder nach Westberlin gezogen, um mit 14 vier Jahre in Norwegen bei seinem Vater zu leben, dann Abitur zu machen, wieder nach Berlin zu ziehen, in einem schwedischen Reisebüro zu arbeiten, anschließend den Wehrdienst in der norwegischen Armee abzuleisten – auf einer Insel weit nördlich des Polarkreises, dort wo das Eismeer auf den Atlantik trifft. Zurück in Berlin, studierte der junge Mann, der bereits vier Sprachen beherrschte, unglücklich an der TU Psychologie, bis ihm die Mutter vorschlug: „Ich glaub, du solltest Schauspieler werden, Andree.
“ Das könnte auch Aase, die Mutter Peer Gynts, zu ihrem Sohn, dem Fantasten, gesagt haben.
Als Kind muss Andree ein begnadeter Faxenmachen gewesen sein. Das war der einzige bewusste Bezug zum Theaterspiel. Da aber die Stimme der Mutter etwas in ihm hervorkitzelte, was bereits in ihm schlummerte, bereitete er drei Monologe vor, natürlich einen auch aus „Peer Gynt“, und bewarb sich an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam. Es klappte – beim ersten Versuch. Wie sein Meininger Kollege Christian Erdmann absolvierte Andree die Jahre in der Abteilung Schauspiel mit Schmerzen, lernte aber einen Dozenten kennen, der dem jungen Mann zeigte, wie es nicht geht. Was ihm der Regisseur Veit Schubert, der dem alten Ost-Theater wenig zugeneigt war, sagte, tat weh, war aber heilsam: „Könntest du probieren, alles zu vergessen, was man dir gesagt hat. Das mag vielleicht mal so funktioniert haben, aber heute will das keiner mehr sehen. Wenn du's schaffst, auf der Bühne Langeweile zu spielen, bist du sehr weit gekommen. Sei einfach du selbst, aber spiel dich nicht selbst, sondern spiel dich in der Figur. Sonst bist du nie glaubwürdig.
“ – Andree Solvik war furchtbar hungrig aufs Spielen, schickte nach dem Studium 80 Bewerbungen durchs Land, bekam einige Angebote und entschied sich für Meiningen: „Das ist ein Ost-Theater. Das versteh ich. Da kann ich mich besser fügen.“
Das Gespräch mit Andree Solvik findet in einem schwäbischen Gartenlokal am Kleinen Wannsee in Berlin statt. Dort um die Ecke wohnt der 43-Jährige. Er ist Vater zweier Jungs, der eine vier, der andere neun Jahre alt, die er gemeinsam mit seiner von ihm getrennt lebenden langjährigen Partnerin betreut. Klar, dass das den Arbeitsplan eines seit vielen Jahren freischaffenden Künstlers vorrangig bestimmt, obwohl Andree Solviks Homepage verrät, dass er ein viel beschäftigter Mann ist: Als Theaterregisseur, als Schauspieler auf der Bühne, in Kinofilmen, TV-Serien und Werbefilmen, als Sprecher bei DeutschlandRadio, als Coach.
Der wichtigste, weil verlässlichste Broterwerb ist augenblicklich die Arbeit als Synchronsprecher. Vergangenes Jahr hat er „Die rechte Hand“ des Bösewichts in „Spectre“, dem neuesten James Bond-Film, gesprochen. Jetzt steht wieder ein Theaterprojekt an. Er wird erst in Athen, dann im Breslauer Grotowski Institut in Aischylos' „Der gefesselte Prometheus“ zu sehen sein, der Wiederaufnahme einer Inszenierung von Theodoros Terzopoulos, in der er schon 2010 mitwirkte.
Zurück nach Meiningen, ins Jahr 1998. Der neue Schauspieldirektor Karl-Georg Kayser besetzte ihn bereits vor offiziellem Arbeitsbeginn als Hauptdarsteller in der deutschen Erstaufführung des Dreipersonenstücks „Der Falke“ von Marie Laberge. Andree spielte einen verstörten Jugendlichen, der seinen Stiefvater getötet haben soll. „Ich weiß noch, wie ich das Stück gelesen habe“, erinnert er sich, „und völlig hineingezogen wurde in diese Geschichte. Ich kam zur ersten Probe und hatte meinen Text schon auswendig gelernt. Das wurde nicht gern gesehen. Rosemarie Blumenstein, die eine Sozialarbeiterin spielte, hat deshalb die Probe türschlagend verlassen. Sie fand das nicht toll, dass ich sie mit meinem Text förmlich an die Wand geballert habe, weil sie natürlich ihren Part noch nicht konnte. Sicher hab ich auch eine Wahnsinnsarroganz an den Tag gelegt.“
Andree wurde bejubelt, vor allem von Teenies, spätestens seit er den Mercutio in „Romeo und Julia“ mimte und dem Helden die Schau stahl. Das hatte natürlich Folgen im Umgang mit gleichaltrigen Kollegen: „Wir jungen Schauspieler waren Konkurrenten. Manchmal hatten wir während und nach den Proben richtigen Streit: 'Da kommt dieser Angeber und kassiert die Lorbeeren.' - Klar, der Erfolg steigt einem zu Kopf und man denkt, man sei der nächste Marlon Brando. Das gab mir eine gewisse Kraft. Nicht, weil ich im Innersten so empfand, sondern weil das wie ein Schutzmantel wirkte, den man anzieht, um das Beste aus sich herauszuholen.“
Selbst wenn er sich in den Rollen mit der Zeit etwas zurücknahm, erkannte Solvik schon damals, dass er sich weder zum Ensemblespieler berufen fühlte, noch lange an einem Ort verweilen wollte. Ein gewisser Hang zur Sesshaftigkeit wurde im Theater damals nicht gerade als Untugend verstanden. Fühlte man sich doch nach dem Tod des Intendanten Ulrich Burkhardt mehr denn je gefordert, den Theaterkarren gemeinsam bergauf und bergab zu ziehen. Aber weder der Burkhardtsche Geist noch die bereits schwächelnde Stimmung des Aufbruchs der 1990er-Jahre waren für den jungen Künstler Zündfunken schauspielerischer Leidenschaft.
Zu Ulrich Burkhardt fällt Solvik nur ein: „Soll ja ein dufter Kerl gewesen sein.“
Enge Bindungen an ein Ensemble und seine Gepflogenheiten wollte der junge Mann vermeiden. „Ich habe mich oft ein bisschen außen vor gefühlt. Es macht einen Unterschied, ob man ein Land von innen kennt oder von außen und von innen.“ Diese Dialektik, die seit der Kindheit in seiner Sicht aufs Leben verankert ist, hält ihn immer wieder davon ab, an einem Ort oder in einem Metier sesshaft zu werden. So wurde Meiningen zum Korsett, obwohl er die Zeit dort nicht missen möchte. Im Vergleich zum Arbeiten unter meist jungen Kollegen im – wie er es nennt – „Haifischbecken“ der Kammerspiele Magdeburg, wohin er nach zwei Jahren wechselte, war Meiningen zwar ein schützendes Korsett, aber es beengte ihn trotzdem. Erst später wurde ihm klar, dass er einfach nicht fürs reine Schauspielerleben geschaffen war: „Ich will eigentlich nicht nur ausführendes Organ sein. Ich will nicht nur die tollen Ideen Anderer verwirklichen, sondern auch die eigenen.
“ Um die Kreativität nicht von zwangsläufigen Existenzängsten beherrschen zu lassen, ist die Konsequenz eines solch freischaffenden Lebens nicht selten ein kräfteraubender Tanz auf verschiedenen Hochzeiten.
„Das Beste aus sich herausholen“ wurde frühzeitig Teil von Andree Solviks Überlebensprinzips als Künstler. Schon bei „Peer Gynt“ in Meiningen. „Mann, hatte ich damals ne große Fresse. Als das Stück auf den Plan kam, bin ich zum Schauspieldirektor. 'Ich sehe, wir machen in der nächsten Spielzeit 'Peer Gynt'. Und ich denke, der Peer Gynt sitzt vor Ihnen, oder?' - Und Karl-Georg Kayser: 'Das müsste man mir erst einmal beweisen.' - Hab ich geantwortet: 'Kann ich beweisen.'“
Kayser gab ihm die Chance. Mit dem jungen Peer klappte es hervorragend, aber mit dem gealterten Mann weniger. Das lag größtenteils an der Inszenierung selbst. Wenn man bedenkt, dass Peter Stein in seiner legendären Inszenierung an der Berliner Schaubühne acht Peers auftreten ließ, braucht man sich über die objektive Überforderung des Jungschauspielers nicht zu wundern.
Natürlich rein zufällig flattert eben ein Szenenfoto auf den Schreibtisch. Der junge Peer Gynt Andree Solvik liegt mit widerspenstig erhobenem Kopf in seinem Bett. Seine Mutter Aase, Barbara Wachholtz, sitzt am Bettrand und klagt. Dieser faule Junge! Peer hat nur Flausen im Kopf. Lügt. Fantasiert. – Trotzdem strahlt das Bild etwas Heimeliges aus. Mutter und Sohn in einem kurzen, wenngleich trügerischen Augenblick der Besinnung. Gleichzeitig sehen wir eine Momentaufnahme zweier Schauspieler, deren berufliche Karrieren völlig verschiedenen Welten entsprungen sind, die zwei völlig verschiedene Wege gegangen sind, um ans Theater zu kommen und die in den folgenden Jahren gegensätzliche Richtungen gehen werden, um sich selbst treu zu bleiben.
Den jungen Freigeist zieht es bald von Meiningen weg. Barbara Wachholtz, seit 1990 fest am Haus, wäre so gerne geblieben, hätte nicht der neue Intendant Res Bosshart 2002 das kündbare künstlerische Personal durch seine Leute ersetzt. Für einen Augenblick sind auf diesem Bild die beiden Welten vereint – die des Unruhegeistes und die der Beständigkeit. Wachholtz und Solvik erinnern sich gern an diese Szene. Andree: „Wie ich sie danach über die Bühne schleppte und es ihr peinlich war.
Ich hab sie geschultert und über diese Berglandschaft getragen. 'Du musst das nicht machen!' - Und ich: 'Bleib ganz ruhig. Das ist kein Problem.'“ Noch so eine Geschichte aus dem verlorenen Paradies.