Man könnte meinen, das Bild sei von Kinderhand gemalt: Eine Art Clownsfigur tanzt auf einer Stele, im Mund eine Tröte, in der Hand Instrumente, die sich bei erstem Hinsehen nicht identifizieren lassen. Was wie eine fröhliche Szene wirkt, ist tatsächlich das genaue Gegenteil.
Das Bild ist Teil einer Serie, in der der Zeichner Wilhelm Werner (1898 bis 1940) sein eigenes Schicksal zeigt. Ein Schicksal, das er mit mehr als 400 000 psychisch kranken Menschen in Nazi-Deutschland teilte: Werner wurde zwangssterilisiert. Auf 44 Bildern hat er die entwürdigenden Erlebnisse verarbeitet. Die Bilderserie wird zurzeit in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg gezeigt.
Wegen vermeintlicher „Idiotie“, die seinerzeit als schwerste Form des „Schwachsinns“ galt, wurde Werner bereits 1919 in die Heil- und Pflegeanstalt Werneck (Landkreis Schweinfurt) eingeliefert. Wie aus der Einlieferungsakte hervorgeht, stammte er („ledig, katholisch, ohne Beruf“) aus „Nordheim/Gerolzhofen“, also aus Nordheim am Main im heutigen Landkreis Kitzingen.
Über Wilhelm Werners Biografie ist fast nichts bekannt, da seine Krankenakte verloren ging, kein Foto gibt es von ihm. Verbürgt ist allerdings sein Ende: Im Oktober 1940 wird die Anstalt Werneck innerhalb weniger Tage fast vollständig geräumt, in die Gebäude sollen Umsiedler aus Bessarabien einziehen. Wie Liane Wendt, Pressesprecherin der Sammlung Prinzhorn, gegenüber der Main-Post sagt, werden zwei Drittel der Bewohner auf andere Anstalten verteilt. Ein Drittel wird nach Sachsen verlegt, wovon die meisten sofort in der Tötungsanstalt „Sonnenstein“ in Pirna vergast werden – darunter auch Wilhelm Werner. „Ihn hat es wohl getroffen, weil er keine Angehörigen hatte, da fragte niemand nach“, so Liane Wendt.
Erhalten sind jedoch seine Bilder – Bleistiftzeichnungen, die Werner auf den Rückseiten eines Auftragsbuches anfertigte. Dass die Sammlung Prinzhorn, die seit 1919 Werke von psychiatrischen Patienten sammelt, diese Dokumente heute zeigen kann, ist den Kindern eines früheren Verwaltungsmitarbeiters der Heil- und Pflegeanstalt zu verdanken. Der Mann, der bis 1938 in Werneck beschäftigt war, hatte die Zeichnungen an sich genommen und jahrzehntelang wie einen Schatz gehütet. In der Familie müssen die Blätter oft herumgereicht worden sein, das bezeugen die Gebrauchsspuren. 2008 erkannte man im Prinzhorn-Museum den dokumentarischen und künstlerischen Wert der Blätter und kaufte die Sammlung an. Für die Erforschung der Euthanasie-Verbrechen der Nazis ist die Serie eine kleine Sensation, zeigen die Zeichnungen doch zum ersten Mal die Zwangssterilisationen aus der Perspektive eines Opfers. Sich selbst stellt Werner meist als passive Clownspuppe dar, an der Schwestern mit Hakenkreuz-Armbinden hantieren. Werner spricht in einigen Bildlegenden von „Sterelation“, wenn er Sterilisation meint. Dass er den Eingriff als Kastration verstand, ist in der Darstellung nicht zu übersehen. „Der Siegeszug der Sterelation“ ist eine Zeichnung betitelt, in der Insassen der Klinik teils mit Zipfelmützen auf dem Kopf in einem Bus transportiert werden. Bestückt ist der Bus mit einer Hakenkreuzfahne, auf dem Dach thront eine Krankenschwester, vor sich zwei schematisierte Hoden auf einem Teller. Ein weiteres Bild zeigt einen Mann, festgeschnallt auf einem Bett, dem an den Genitalien hantiert wird. Auf anderen Blättern sind zahllose Operationsinstrumente zu sehen, einige davon penibel beschriftet.
Auch deshalb glaubt man im Prinzhorn-Museum nicht, dass Werner tatsächlich an „Idiotie“ litt. „Dann hätte er das geistige Niveau eines Kleinkindes haben müssen. Die Zeichnungen sagen aber etwas ganz Anderes aus. Wir glauben, dass Wilhelm Werner möglicherweise Autist war“, meint Liane Wendt. Zumal sich Werner über seine Situation durchaus im Bilde war und auch seine Umgebung einschätzen und wiedergeben konnte. Auf Bild Nummer acht der Sammlung ist so das Porträt eines Mannes zu sehen, überschrieben mit „Doktor Weinzierl“. „So hieß damals ein leitender Chirurg am Schweinfurter Krankenhaus, das von Werner gezeichnete Porträt ist ihm sehr ähnlich“, sagt Liane Wendt. Wahrscheinlich sei die Sterilisation an Werner – wie an 283 weiteren Insassen der Pflegeanstalt – in Schweinfurt vorgenommen worden. Damit habe man auch in Werneck das 1934 beschlossene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ umgesetzt.
Wie wenig der Mensch, der kranke zumal, in der Maschinerie des Nazistaates galt, das hat Wilhelm Werner auf geradezu beklemmende Art darzustellen gewusst: das Individuum als Objekt in fremden Händen, malträtiert mit Instrumenten und Apparaten. Ein einziges Bild sticht aus der Serie heraus. Nummer elf zeigt ein Landschaftsmotiv: sanfte Hügel, Kirchturmspitzen, darüber ein weiter Himmel.
Die offenkundige Sehnsucht nach Freiheit blieb unerfüllt. Für die Herrenmenschen im „Dritten Reich“ galt jemand wie Wilhelm Werner als „lebensunwertes Leben“, für ihn war kein Platz. Geblieben sind 44 abgegriffene Blatt Papier.
Sammlung Prinzhorn
Der Gründer der Sammlung war der Kunsthistoriker Hans Prinzhorn (1886 bis 1933). Von 1919 bis 1921 trug er in Heidelberg knapp 5000 künstlerische Werke zusammen, die 435 Patienten psychiatrischer Anstalten im deutschsprachigen Raum zwischen 1845 und 1920 geschaffen hatten. Die Nazis missbrauchten Teile der Sammlung für ihre berüchtigte Ausstellung „Entartete Kunst“. Seit den 1980er Jahren wird die Sammlung wissenschaftlich aufbereitet. Bilder eines Opfers der NS-„Rassenhygiene“, wie die des Nordheimers Wilhelm Werner, waren bislang nicht bekannt.
Die Kabinettausstellung „Bilder einer Zwangssterilisierung“ ist noch bis zum 6. Juni in der Sammlung Prinzhorn (Heidelberg, Voßstraße 2) zu sehen. Öffnungszeiten sind Dienstag sowie Donnerstag bis Sonntag von 11 bis 17 Uhr und Mittwoch von 11 bis 20 Uhr. Quelle: Sammlung Prinzhorn
ONLINE-TIPP
Mehr Informationen unter www.prinzhorn.uni-hd.de