Stellen Sie sich vor, sie stehen morgens auf, schlüpfen in ein grellgelbes Jackett, ziehen eine an den Schlagersänger Heino erinnernde Perücke über, setzen eine Ray-Ban-Sonnenbrille auf und dann geht es raus auf die Straße und zur Arbeit. Wenn Sie Ihren Arbeitstag überstanden haben, ziehen Sie sich zuhause wieder um: Ihr gelbes Jackett tauschen Sie gegen eine Bomberjacke, ihre flachen Sneakers ersetzen Sie durch Springerstiefel.
Was völlig absurd und nahezu albern klingt, war für den Journalisten Thomas Kuban über Jahre hinweg immer wieder Realität bei seinen Reisen durch Deutschland und halb Europa: Mal war er in Verkleidung unterwegs als Journalist, der sich nicht zu erkennen geben darf. Mal undercover als Neonazi – ausgerüstet mit Knopfkamera und Mini-Mikros.
Kuban hat sich auch mit rund 40 Identitäten in Nazi-Foren eingeklinkt, Kontakte geknüpft, Nazi-Gesten und Verhaltensweisen einstudiert, Equipment besorgt. Natürlich verbirgt sich hinter „Thomas Kuban“ ein anderer Mensch – er muss unbekannt bleiben. Die Stimme ist verstellt, orientiert sich aber an der wahren Identität. Dazu kommt die eigenwillige Verkleidung. Sie ist für den Mann hinter Kuban aber nicht nur Schutz, sondern auch eine Art Markenzeichen – das grellgelbe Jackett als Symbol für den Kampf gegen Nazis.
Seine „zweite Verkleidung“ waren seine Ausgeh-Klamotten für die Nazi-Konzerte: Zehn Jahre lang verschaffte er sich so Zutritt zu den Epizentren der neonationalsozialistischen Rockmusik-Szene – besonders häufig in Bayern und Sachsen. Ein Lied begegnet ihm auf seiner „Konzerttournee“ immer wieder: „Blut muss fließen knüppelhageldick, wir scheißen auf die Freiheit dieser Judenrepublik…“.
Zusammen mit dem Filmregisseur Peter Ohlendorf hat Kuban diese Erlebnisse in einer eineinhalbstündigen Dokumentation verarbeitet: „Blut muss fließen - Undercover unter Nazis“. Darin zeigen die beiden nicht nur, wie viel Hass deutsche Neonazis in sich tragen und wie sie junge Leute mit ihren Texten ködern, sondern vor allem wie untätig und hilflos Politik und Polizei bei dem Thema häufig sind.
Während Wolfgang Schäuble für ein Interview nach der Pressekonferenz zur Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes nicht zur Verfügung steht, lässt Günther Beckstein in Bayern unangenehme Fragen zu – mehr aber auch nicht. Angesprochen auf die zahlreichen Gesetzesverstöße, die Neonazis auf ihren Konzerten begehen, antwortet er: „Wenn den Behörden so etwas bekannt ist, werden sie reagieren“. Kuban beweist in seinem Film aber, dass die Polizei bei braunen Veranstaltungen sogar eher patrouilliert als einzuschreiten. Darauf angesprochen kanzelt Beckstein ihn ab und wechselt das Thema. „Das ist total schockierend. Dass die Polizei echt einfach nur daneben steht“, sagt die 22-jährige Angelina von der Schweinfurter Friedrich-Fischer-Schule. Sie hat, so wie rund 500 Schweinfurter Schüler auch, die Doku gesehen – im KuK. „Es ist Wahnsinn, dass sie einfach wegsehen und nichts machen. Es ist doch Aufgabe der Politik vor allem uns Jugendliche da zu unterstützen und dagegen anzugehen. Ich hätte nicht gedacht, dass man die Problematik so einfach erstickt“, sagt Angelinas Mitschüler Julian. „So gut wie keiner wollte das wissen. Zwischen 2007 und 2011 haben wir keine Dokumentarfilmredaktion für unseren Film gefunden“ sagt Produzent Peter Ohlendorf. „Bis heute gibt es keine Ausstrahlung“.
Im Februar 2012 feierte der Film auf der Berlinale Premiere, seit April 2012 tourt Ohlendorf durch ganz Deutschland – zeigt den Film an Schulen, bei Behörden, so oft es geht. In Schweinfurt lief der Film jetzt äußerst erfolgreich im Stattbahnhof und im KuK, unterstützt vom Stadtjugendring Schweinfurt und der DGB-Jugend. „Wir haben die Schüler da nicht einfach nur durchgeschleust, sondern da ist etwas passiert“, sagt Ohlendorf. DGB-Jugendsekretär Björn Wortmann gab den Jugendlichen im KuK zum Beispiel nach dem Film noch ein „Paket gegen Nazis“ mit auf den Weg. Das war so stark nachgefragt, dass er nicht genug dabei hatte.
„Aber wir wollen natürlich nicht nur junge Leute erreichen, sondern auch Menschen quer durch Bevölkerung und Parteien, um zu sagen: Egal, wo wir politisch stehen, wir wollen eine gemeinsame Basis, dass Nazis keine Chance haben“, sagt Ohlendorf.
Vor Weihnachten kommt noch Offenburg, im neuen Jahr geht es in Sigmaringen weiter. Angesetzt sind die Filmvorführungen bis Juli 2014, aber „wir machen so lange weiter, wie es geht“.