Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit Ihrem Partner/Ihrer Partnerin am Samstagabend frisch gebügelt und geschniegelt ins Meininger Theater – in froher Erwartung einer von der Kritik hochgelobten und von Freunden empfohlenen Hamlet-Inszenierung. Und dann tritt ein Herr im Anzug vor den Bühnenvorhang – wahrscheinlich der Abendspielleiter – und verkündet, die Vorstellung falle wegen Beinbruchs des Hauptdarstellers aus.
Die Saaltüren öffnen sich bereits wieder. Ungläubiges Staunen im Publikum, das, der Trägheit geschuldet, noch ein bisschen sitzen bleibt und hofft, das Ganze beruhe auf einem Missverständnis. Was sollte man auch tun mit diesem angebrochenen Samstagabend in kulturbeflissener Aura? Der Vorhang öffnet sich derweil, Bühnenarbeiter bauen Kulissenteile ab, schließlich wird schon morgen Abend der „Figaro“ gegeben. Einer der Werktätigen macht sich laut Gedanken darüber, warum er einen historischen Stuhl von der Bühne schaffen soll, obwohl der doch auch im Schloss der Grafen Almaviva gebraucht würde. Als er das Publikum entdeckt, erschrickt er erst einmal und bittet dann die Zuschauer inständig, den Saal zu verlassen. Doch diese sturen Menschen bleiben sitzen und lauschen gebannt den Worten des Bühnenarbeiters, der sich als Vorhangzieher entpuppt. Der fängt nun – erst aus Verlegenheit, dann mit ungeheurem Sendungsbewusstsein an zu schwadronieren – über das Stück, über das Theater an und für sich, über die Schauspieler, über seine Arbeit, über die abgebrochene Karriere als Bühnenkünstler, über Gott und die Welt, über Hamlet, Leben, Tod und Teufel – und nicht zuletzt über die Philosophie des Öffnens und Schließens des Bühnenvorhangs.
Viel Leben und Sterben also, viel bedeutsamer Stoff und viel Banalität in diesem „Stück Theater“ – so der Untertitel von Rainer Lewandowskis „Heute weder Hamlet“, einem Soloabend für einen Schauspieler. Lutz Hochstraate („Othello darf nicht platzen“) inszenierte diese leidenschaftliche, tragikomische Hymne ans Theater in von Bühnenbildner Helge Ullmann arrangierten Kulissen des historischen Hamlet-Prospekts (Terrasse Schloss Helsing?r). Und wer gibt den perfekten Vorhangzieher? Da muss man nicht lange überlegen: Einer der alten Hasen unter den Meiningern, Hans-Joachim Rodewald. Stets dem Publikum in unerschütterlichem Vertrauen zugewandt, meistert der die Finessen und Petitessen dieses Stückes mit Bravour.
„Heute weder Hamlet“ ist eine ungewöhnliche Liebeserklärung ans Theater vor und hinter den Kulissen. Ohne Umschweife öffnet es einem auch die Augen für kleine Dinge, scheinbare Nebensächlichkeiten, die der routinierte Theaterbesucher höchstenfalls noch im Unterbewusstsein spürt – diese Augenblicke prickelnder Vorfreude etwa, die einen durchströmt, wenn die Lichter im Saal verlöschen, das Publikumsgemurmel verstummt und sich der Vorhang öffnet – dieser Vorhang, der die Welten trennt und vereint. Aber neben den kleinen, bemerkenswerten Feinheiten muss Rodewald das ganze Universum des tragikomischen Schicksals des Vorhangziehers und einstigen begnadeten Schauspielers (mit Engagements in Bruchsal und Kassel) lebendig werden lassen, das Lewandowski in diese Figur gegossen hat. Rodewald muss also in kürzester Zeit einen Charakter lebendig werden lassen, der nonstop zwischen tiefsten Reflexionen, banalen Gedanken und erschütternden Erinnerungen oszilliert – und das im ständigen Wechsel von komödiantischen und tragischen Elementen. Das ist zwar viel zu viel des Hintersinnigen und Vordergründigen für einen neunzigminütigen pausenlosen Theaterabend, aber ein Routinier wie Rodewald, der sein Publikum seit Menschengedenken im Griff hat, der bewältigt das. Der Rest ist Schweigen. Und riesengroßer Applaus. Siggi Seuss
Nächste Vorstellungen: 6. und 8. April, jeweils 19.30 Uhr, 9. Mai und 23. Juni, jeweils 15 Uhr, 4. Juli, 19.30 Uhr. Karten: Tel. (0 36 96) 451 222 oder -137. www.das-meininger-theater.de