Am Palmsonntag war der Spitalgarten diesmal leer. Keine Gemeinde. Keine festliche Musik. In der Altstadt kein Frühlingsfest. Nur Palmkätzchen lagen auf dem Tisch.
Schon das Wort Palmkätzchen - eine Verniedlichungsform - macht es deutlich: Sie sind schön anzuschauen und wenn man drüber streichelt sind sie schön kuschelig und sanft. Die Palmkätzchen, erste Frühlingsboten, Zeichen des Optimismus, das Leben erwacht. Doch wie schnell kann aus diesen kuscheligen Palmkätzchen etwas anderes werden, wenn ich die zarten Kätzchen abstreife. Da wird eine Rute, eine Peitsche daraus, mit der ich kräftig zuschlagen kann.
Diese zwei Seiten der Palmkätzchen stellen für mich den Charakter des Palmsonntags dar. Da wird Jesus mit wehenden Palmen begeistert empfangen. Jubelrufe und Begeisterungsstürme. Sympathiebekundungen. Große Hoffnungen ruhen auf ihm. Doch wie schnell kommt der Umschwung. Ein paar Tage später statt Hosanna-Rufe knallen die Peitschen auf ihn und das Volk schreit „Kreuzige ihn“.
Die Palmkätzchen sprechen für mich gerade jetzt noch eine andere Symbolsprache. Geben wir es doch zu. Wir lebten und wiegten uns in einer kuscheligen Palmkätzchen-Zeit. Für die meisten war alles zu haben, was das Herz begehrt. Angenehme Urlaube, bequeme Sofas, wohl ausstaffierte Häuser. Fast Schlaraffenland. Doch auf einmal wird ein kleines Virus zur großen Gefahr unserer Palmkätzchen-Wohlstandsgesellschaft und entpuppt sich als Geißel der Menschheit. Überall kann es zuschlagen.
- Pfarrer Stefan Mai und die Palmkätzchen: Hier gibt es das passende Video dazu.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich wehre mich dagegen: Corona ist keine eine Geißel Gottes, mit der er der Menschheit es wieder einmal zeigen und sie züchtigen will. Was wäre das für ein Gott, wenn er sich dadurch wieder einmal in einer Gott vergessenen Zeit bemerkbar machen würde. Aber diese Geißel Corona schlägt uns die Illusion aus den Kopf: ständiges Wachstum, der Wohlstand wird immer größer, wir haben alles im Griff, wir sind weich gebettet.
Das Palmkätzchen, das in unserer Gegend von vielen Menschen noch hinter das Kreuz in den Wohnungen gesteckt wird, ruft in mir die eigentliche Bedeutung des Hosanna-Rufes in Erinnerung. Hosanna heißt in seiner ursprünglichen Bedeutung nichts anderes als „Hilf doch Herr!“ Mehr ein Flehruf als Jubelruf. Vielleicht ein stummes, flehentliches Gebet, wenn wir in diesem Jahr die Palmzweige hinter das Kreuz stecken. Ein Zeichen unserer Ohnmacht und Bitte: Hilf doch, Herr!