Sie ist das mit Abstand größte und schwerste Geburtstagskind, das in diesem Jahr in Gerolzhofen seinen Geburtstag feiert: Die große Glocke im Südturm des Steigerwalddoms wird 450 Jahre alt.
Die Glocke ist die einzige, die vom ehemals gotischen Geläut der Stadtpfarrkirche übriggeblieben ist. Alle anderen Glocken wurden im Laufe der Jahrhunderte abgehängt und durch neue ersetzt, unter anderem als die Türme unter Fürstbischof Julius Echter ein zusätzliches Geschoss und die in den Himmel ragenden neuen Dachstühle erhielten.
Und schließlich fielen fast alle Glocken des Steigerwalddoms während der Nazi-Herrschaft den Machthabern zum Opfern, die das Erz der Glocken für ihre Waffenproduktion benötigten. Nur eine Glocke verblieb immer hoch oben in der Turmstube, oft genug ganz allein: die Glocke von 1572.
Gutachten eines Experten
Im Jahr 1571 lud der Stadtrat von Gerolzhofen einen auswärtigen Gutachter ein, um die Qualität der Glocken oben in den beiden Türmen der Pfarrkirche zu untersuchen. Der Experte, von Beruf Glockengießer, habe die "pushaften", also die beschädigten Glocken unter die Lupe genommen, ist in einem historischen Dokument im Gerolzhöfer Stadtarchiv nachzulesen.
Danach hat es sich der angereiste Experte auf Kosten der Stadt im Wirtshaus gut gehen lassen. Seine ordentliche Zeche ist in der Bürgermeister-Rechnung von 1571 verbucht. Das heißt: Die Stadt hat das Honorar des Gutachters übernommen und damit zugleich auch die Baulast an den Glocken akzeptiert. Auch in Zukunft werden die Ausgaben für die Glocken nur in städtischen Rechnungen verbucht und nicht in der Rechnungsführung des Gotteshauses.
Glocke mit Totalschaden
Der Gutachter stellte damals fest, dass eine Glocke beschädigt, aber reparierbar ist. Eine zweite Glocke im Südturm ist allerdings so schadhaft, dass sie nicht mehr repariert werden kann. Anno 1572 kommt es deshalb auf Kosten der Stadt zur Anschaffung einer neuen Glocke für den Steigerwalddom. Bürgermeister war damals Georg Müller, der rechts neben dem Rügshöfer Tor ein prächtiges Haus besaß und dort eine Gastwirtschaft betrieb.
Unterstützung für den Kauf einer neuen Glocke gab es von Pfarrer Konrad Multner, einem eifrigen Streber der Gegenreformation. Multner war am 22. September 1569 als neuer Pfarrer von Gerolzhofen installiert worden. Er hatte Pfarrer Jakob Pfeffer abgelöst, der am vierten Tag des August 1569 im Alter von 46 Jahren in Gerolzhofen gestorben war. Der Grabstein von Pfeffer, ebenfalls ein eifriger Verfechter der Gegenreformation und Gegner der Lutheraner, ist heute in der evangelischen Erlöserkirche aufgestellt.

Zunächst muss die schwer beschädigte Glocke aus dem Südturm herabgelassen werden. Neun kräftige Männer hängen an den Seilen und Flaschenzügen, als die Glocke langsam nach unten schwebt. Die Glocke wird dann auf einen Wagen des Spitalbauern geladen. Bei dem "Spitalbauern" handelte es sich um den Landwirt, der gegen Bezahlung die umfangreichen Besitzung des Gerolzhöfer Bürgerspitals bewirtschaftete.
Mit dem Pferdegespann nach Nürnberg
Mit dem Pferdegespann des Bürgerspitals wird die Glocke nach Nürnberg in die Werkstatt von "Christoph Glockengießer" gefahren. Bei dem Meister handelt es sich um Christoph II. Rosenhardt, der wie sein aus Regensburg stammender Vater Christoph I. und später auch sein Sohn Christoph III. nur "Glockengießer" gerufen wird.
In der Werkstatt von Rosenhardt wird die alte Glocke aus Gerolzhofen zerschlagen, eingeschmolzen und mit weiterem zusätzlichen Metall zu einer neuen Glocke gegossen. Den Gesellen und dem Meister wird bei ihrer schweißtreibenden Arbeit beim Schmelzen und beim Glockenguss reichlich Bier gereicht – auf Kosten der Stadt Gerolzhofen und in den Bürgermeisterrechnungen verbucht.
Vorbereitende Arbeiten
Währenddessen laufen zuhause in Gerolzhofen schon die Vorbereitungsarbeiten für die Ankunft der neuen Glocke. Oben in der Glockenstube des Südturms wird ein "steinerner Fuß" gemauert, auf dem dann der nagelneue hölzerne Glockenstuhl aufgesetzt wird. Dazu werden 38 Pferdefuhrwerke mit Steinen aus dem Steinbruch vor dem Schallfelder Stadttor benötigt. Die Türme der Kirche hatten damals noch - wie in der Gotik üblich - nur relativ niedrige steinerne Hauben.
Für den neuen Bretterboden oben in der Glockenstube wird von der Stadt an der Mainlände in Obereuerheim Tannen- oder Fichtenholz gekauft, das auf dem Main herab geflößt worden war. Zur Stabilisierung des neuen Glockenstuhls werden schließlich noch Eisenstangen eingebracht, die mit Blei im Sandstein-Mauerwerk befestigt werden.
Die neue Glocke kommt
Die neue Glocke wird wieder mit einem Pferdefuhrwerk von Nürnberg nach Gerolzhofen gefahren. Die extra starken Seile zum Hinaufziehen auf den Kirchturm liefert ein Zeugmeister aus Nürnberg. Den Produkten der heimischen Seiler-Werkstätten vertraute man damals offenbar nicht so recht. Die hölzernen Kloben, wo die Seile durchlaufen und die Glocke eingehängt wird, werden dick mit Öl geschmiert. Und dann heißt es, die Glocke mit Muskelkraft in den Turm hochziehen.

Die neue Glocke aus der Werkstatt der Familie Christoph Rosenhardt hat einen Durchmesser von 1,25 Meter. An ihrem kunstvoll gestalteten Mantel sind die drei Reliefs der Kreuzigung, von Petrus und Paulus und von Adam und Eva zu sehen.
Die zweizeilige Umschrift in gotischen Minuskeln lautet: "zun gottes dinst geher ich/das volck zu rueffen teglich/zum wort gottes allezeit/darumb man mich billig leut/zu Geroltzhoffen ein erbar Rat/mich zu giesen bevolhen hat/das geschehen ist furwahr/im 1572 jar/durch christof glockengiesser gemacht/zu nurmberg auff begeren volpracht".
Getreu ihres in den Minuskeln festgehaltenen Auftrags ruft die Glocke bis heute die Gläubigen zum Gottesdienst und zeigt die Stunden an. Täglich. Seit 450 Jahren.