Professor Christian Hendrich beugt sich über das offene Knie. Er setzt eine Klemme in die Wunde, greift zum Hebel. Es ist ein großes Knie mit enormen Fettpolstern an den Seiten – mehr ist nicht zu erkennen. Der Rest der Patientin ist von Tüchern bedeckt. Nach rund 35 Minuten hat der Chirurg der übergewichtigen Frau ein künstliches Kniegelenk eingesetzt. Alles ist problemlos verlaufen, sagt Hendrich, Ärztlicher Direktor des Orthopädischen Krankenhauses Schloss Werneck. Bei übergewichtigen Patienten nimmt er sich besonders viel Zeit. Da müsse er mit viel Liebe arbeiten, sagt er und, dass das immer öfter vorkäme. „Es gibt eine Tendenz zu übergewichtigen Patienten, mehr noch als vor 15 Jahren.“
Diese Entwicklung betrifft alle Krankenhäuser, auch in Schweinfurt und der Region, und verursacht viele Probleme für Ärzte und Pfleger, oft schon vor der Behandlung: Nicht alle Waagen sind für übergewichtige Patienten ausgelegt oder eine Kernspintomografie muss in eine Tierklinik verlegt werden, weil die Röhren zu schmal sind.
Besorgliche Entwicklung
Das Robert-Koch-Institut hat in einer Studie neue Zahlen über Männer und Frauen mit Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit) veröffentlicht. Ergebnis: Mindestens jeder sechste deutsche Erwachsene ist adipös und beinahe jeder Dritte übergewichtig. Die Tendenz in den letzten Jahren ist steigend. Knie- und Hüftschäden, Diabetes sowie Bluthochdruck sind nur einige Erkrankungen, die das Übergewicht verursachen.
„Die Operationen an Überwichtigen sind körperlich anstrengend und technisch sehr aufwändig“, sagt Christoph Schmidt, Chefarzt der allgemeinen Chirurgie im St. Josef Krankenhaus Schweinfurt. Obwohl es dank neuer OP-Tische, die ein Gewicht bis zu 360 Kilogramm aushalten, möglich sei, extrem schwere Patienten zu operieren, sind die Risiken hoch. Es fängt schon damit an, dass die Chirurgen bei der Operation Probleme mit der Übersicht haben, weil bei übergewichtigen Patienten mehr Bauchfett um die Organe liegt. Manche adipösen Patienten tragen eine Fettschicht von 20 bis 25 Zentimetern mit sich herum. „Übergewicht ist außerdem ein Risikofaktor für Komplikationen“, sagt Christoph Schmidt, „wie hohes Alter auch.“ Der dicke Patient habe ein größeres Risiko, an Infektionen zu erkranken als ein Normalgewichtiger. Die Heilung der Wunde könne zudem langsamer verlaufen. Deswegen ist die Pflege intensiver.
In den letzten Jahren hat das Krankenhaus in der Pflege aufgerüstet, sagt Andreas Hering, stellvertretender Pflegedirektor in St. Josef. Übergroße Rollstühle, Toiletten- und Duschstühle, extra breite Blutdruckmanschetten und Patienten-Lifte wurden angeschafft. Ein normaler Rollstuhl kostet etwa 250 Euro, für einen Schwerlastrollstuhl wird fast das Dreifache verlangt. Aber natürlich erleichtert es die Arbeit der Pfleger und entlastet die Patienten. Dass schwer Übergewichtige abgelehnt werden, wie es früher schon mal vorkam, gibt es nicht mehr, sagt Martin Stapper, Direktor des St. Josef. Derzeit hat das Krankenhaus in jedem Bereich die Möglichkeit, schwere Patienten zu versorgen.
Lukas Ohrnberger kennt sich mit der Problematik gut aus: Er ist der Leiter der Pflegeabteilung im Leopoldina-Krankenhaus in Schweinfurt, kümmert sich um 670 Pflegerinnen und Pfleger und ist das Bindeglied zwischen den einzelnen Stationen. „Das Problem der Adipositas nimmt zu“, sagt auch Ohrnberger. Die „Highlights“, wie er Patienten ab 200 Kilogramm aufwärts nennt, sind glücklicherweise selten.
Bleibt das logistische Problem, die übergroßen Betten und Rollstühle zu lagern, wenn sie nicht gebraucht werden. Deswegen haben die beiden Schweinfurter Krankenhäuser nur einen Teil gekauft, der Rest wird kurzfristig bei Bedarf geleast. Eine Zeit lang bestand die Befürchtung, das Leopoldina könne sich zum Zentrum für schwergewichtige Patienten entwickeln. Nachdem das Bayerische Rote Kreuz (BRK) Schweinfurt 2010 einen Rettungswagen für Schwertransporte gekauft hatte, wurde gleich am ersten Tag ein Patient mit 270 Kilogramm eingeliefert – aus Thüringen. Die Befürchtungen der Krankenhausleitung haben sich in den letzten zwei Jahren allerdings nicht bewahrheitet.
Von außen ist der Rettungswagen für Schwertransporte in der Garage des BRK in Schweinfurt kaum von den anderen zu unterscheiden – bis auf die rechteckige Platte an der hinteren Tür, die Hebebühne. Sie hat die einst so schwere Arbeit der Rettungssanitäter enorm erleichtert. Der 140 000 Euro teure Rettungswagen hat außerdem einen bis zu 228 Kilogramm belastbaren Rollstuhl und eine elektrisch ausfahrbare Transportliege. „Früher war der Transport von übergewichtigen Patienten ohne die Hilfe der Feuerwehr kaum zu schaffen“, sagt Michael Köth, stellvertretender Wachleiter beim BRK. Seit der Anschaffung vor zwei Jahren wurden etwa 300 Patienten über 150 Kilogramm transportiert.
Einen anderen Weg als die Schweinfurter Krankenhäuser schlägt die Geomed-Klinik Gerolzhofen ein. „Patienten bis 160 Kilogramm können wir problemlos versorgen“, sagt Manfred Klein, der Ärztliche Direktor. „Falls wir einen schweren Patienten nicht versorgen können, kommt er in eine Spezialklinik.“ Klein hofft, dass die Entwicklung nicht so schlimm wird wie in den USA. Die Klinik bereite sich aber darauf vor. Bei künftigen Anschaffungen werde darauf geachtet, dass sie Patienten ab 160 Kilogramm aufwärts aushalten.
Dringende Veränderungen
Die Ursachen der steigenden Fettleibigkeit sind laut Experten vielfältig. Detlef Weidner, OP-Leiter im Krankenhaus Schloss Werneck, zählt die Hauptgründe auf: falsche Ernährung und fehlende Bewegung. Ein gefährlicher Trend, sagt er. Es scheine, als ob die Gesellschaft zu extremen Positionen neigt, „entweder extrem dünn oder extrem fett“.
Ähnlich sieht es Chefarzt Christian Schmidt von St. Josef. Mittlerweile habe Deutschland hinter den USA die dicksten Menschen. „Da sind die Süßigkeiten, aber auch Getränke wie Cola und Fanta“, sagt er. Wer auf Dauer mehr Kalorien zu sich nimmt als er verbraucht, wird dicker.
Für Lukas Ohrnberger spielt auch die Einsamkeit eine Rolle. „Der Mensch isoliert sich und beginnt zu essen“, sagt der Pflegeleiter des Leopoldina. „Je mehr er wiegt, umso mehr zieht er sich zurück, isst noch mehr.“ Eine nachhaltige Gewichtsbehandlung dauert lange und müsste auch psychologisch betreut werden.
Schließlich müssten bei der Therapie Ernährungs- und Bewegungsmuster geändert werden, die sich bei den Patienten seit vielen Jahren gefestigt hätten. „Allerdings können wir das als akuter Versorger nicht leisten“, sagt Ohrnberger, „wir können dem Patienten nur die rote Karte zeigen.“ Als eine Art Warnsignal, damit der stark Übergewichtige begreift, dass er seine starren Gewohnheiten ändern muss.
Düstere Prognose
Die Prognose für die Zukunft klingt schlecht: Die Deutschen werden dicker, was sich auf das Gesundheitssystem auswirkt. Rund 22,5 Milliarden Euro werden laut Studien bis 2020 für die Folgebehandlung von Übergewichtigen fällig. „Wir versuchen nur, das größte Übel abzuwenden“, sagt Franz Engelmaier, Leitender Oberarzt des Orthopädischen Krankenhauses Schloss Werneck. Christoph Schmidt von St. Josef formuliert es so: „Wir behandeln nicht das Übergewicht, sondern die Folgeerkrankungen.“ Wenn sich was ändern soll, müssten die Krankenkassen Aufklärungskampagnen starten. „Aber auch Hausärzte haben eine Verantwortung, da sie permanent am Patienten sind.“
Ohrnberger verweist auf die Verantwortung der Eltern und Schulen. Sie müssten den Kindern zeigen, wie man sich gesund und ausgewogen ernährt. „Die Gesellschaft muss für das Problem des Übergewichts sensibilisiert werden.“
Professor Hendrich in Werneck operiert täglich mehrere Patienten an Hüfte und Knie. Dabei hat er es schon erlebt, dass so eine Operation Wunder bewirkt. Bei den Nachuntersuchungen hatten die Patienten eine Verwandlung durchgemacht. Aber: Es sei letztlich auch eine persönliche Entscheidung, wie mit dem eigenen Körper umgegangen wird. „Wir versuchen dem Patienten, egal wie schwer er ist, so gut wie möglich zu helfen und wir wollen, dass er sich wohlfühlt.“
Adipositas und ihre Folgen
Adipositas ist keine anerkannte Krankheit, sondern erst die daraus resultierenden teils auch chronischen Erkrankungen. Dazu zählen neben Diabetes, Bluthochdruck und Gelenkschäden auch Krebs, verschiedene Fettstoffwechselkrankheiten und psychosoziale Probleme. Als Ursache für Übergewicht gelten soziale Umweltfaktoren, falsche Ernährung, fehlende Bewegung sowie selten genetische Voraussetzungen.
Der Body-Maß-Index (BMI) wird zur Ermittlung eines zu hohen Körpergewichts verwendet, weil er stark mit dem Körperfettanteil zusammenhängt. Dabei wird das Körpergewicht in Kilogramm durch das Quadrat der Körpergröße in Meter geteilt. Nach Einteilung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist ein Wert bis 24,9 normal, alles darüber gilt als Übergewicht. Von Adipositas wird bei einem BMI ab 30 gesprochen.
Die Folgen für das Gesundheitssystem sind laut einer Studie von Experten in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) enorm: Allein bis 2020 werden deutschlandweit knapp 22,5 Milliarden Euro in die Behandlung der Begleiterkrankungen gesteckt. Hinzu kommen Kosten von 3,3 Milliarden Euro aufgrund von krankheitsbedingten Ausfällen.