„Wissen Sie, ich bin stoffsüchtig.“ Birgit Seidel war noch keine 20 Jahre alt, als sie ihre „Sucht“ entdeckte
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Seitdem frönt sie ihrer „Sucht“ über alle Grenzen hinweg.
Nach der Mittleren Reife ging die junge Frau als Au pair nach Schweden zu einer Pfarrersfamilie mit drei Kindern. „Das hat mir eine völlig neue Welt erschlossen“, erzählt sie. Man traf sich, stickte, strickte und nähte. Seidel hat sich damals anstecken lassen, kaufte Stoffe, begann zu nähen. Als sie dann verheiratet war, hat sie für ihre Buben genäht.
„Hosen“, erinnert sie sich, denn „ich wollte was Besonderes haben.“ Nicht selten wurde es auch eine besondere Erfahrung, wenn die Hosen rutschten oder die Taschen falsch herum waren.
Dann ging sie mit ihrem Mann nach Kanada, der dort für ein Jahr als Austauschlehrer tätig war. Und hier kam sie mit einer ganz anderen Art der Stoffverarbeitung in Berührung, dem Patchwork. „In Kanada weht ein anderer Geist“, erzählt Seidel. Man werde angesprochen und mitgenommen. Seidel lernte so das Quilten.
Sie zeigt eine Patchworkdecke aus vielen kleinen Stoffmuster-Quadraten. „Jeder dieser Stoffe hat eine Geschichte“, sagt Seidel. Sie wisse genau, aus welchem Kleidungsstück das Stoffmuster stammt, wo dieses gekauft wurde und ob's ein Lustkauf war oder nicht. In Kanada habe das Patchwork einen hohen Stellenwert, da gibt es Freundschaftsquilts, bei denen jeder einen Teil fertigt.
Die nächste Station ihres bewegten Lebens war Ungarn. Seidel öffnet einen Schrank, der voller Leinenstoffe ist, teils bestickt, teils mit Mustern gewebt. Ein Schubfach ist voller Spitzen. Seidel strahlt: „Wenn ich so einen edlen Stoff sehe, dann muss ich ihn kaufen.“ Auch im Keller hat sie noch Truhen voller Stoffe; neulich habe sie sie sortiert, dann befinde sie sich wie in einem Rausch. Manchmal bringe sie Tage im Arbeitszimmer zu, um zu nähen.
Eine Zeit lang hat die gelernte Buchhändlerin versucht, mit ihren schönen Stoffen auf Märkte zu gehen, „aber bei uns weiß das kaum jemand zu schätzen“, stellte Seidel fest. Komisch findet sie das, denn Zeitschriften seien voll von Dekorationen mit solchen Stoffen.
Seidel liebt die Beschäftigung mit Stoffen. „Es hat etwas Meditatives“, sagt sie. Ihr „jüngstes Kind“ sind selbstgenähte Taschen. Große, stabile Einkaufstaschen, die mit einem kleinen Trick in handliche Täschchen verwandelt werden können. Das sei ihr Beitrag zur Vermeidung von Plastikmüll, erklärt Seidel, denn es würden noch immer viel zu viele Plastiktaschen mitgenommen.
Die Idee zu dieser Verwandlungstasche hat Seidel von einer Bekannten bekommen, die ihr etwas Ähnliches gezeigt hat. Dann habe sie solange rumgetüftelt, bis ihre Einkaufs-Hand-Tasche entstand.
Seidel bedauert, dass Stoffe heutzutage ihren Wert verloren haben. Leinen herzustellen, sei ein ganz aufwändiges Verfahren. Früher seien in den Herrschaftshäusern extra Wäscherinnen angestellt worden, die wussten, wie man mit dem edlen Stoff umgeht. Den Wert eines Stoffes und den der Handarbeit wisse mittlerweile kaum mehr jemand zu schätzen, meint Seidel und sagt: „Ich versuche ein bisschen was dagegen zu tun.“