Sybille Krafft zeigt ihr Lieblingsbild in der Ausstellung: Ein Foto aus dem Jahr 1937. Es zeigt ein gutes Dutzend Mädchen vor einer Winterlandschaft, manche lächelnd, andere ausgelassen lachend. Ein Ausflug ins Oberland – offensichtlich wird herumgealbert, hinten zieht ein Mädchen ein anderes am Zopf. „Das sind ganz normale junge Frauen, die niemandem etwas getan haben“, sagt Sybille Krafft, „und ein paar Jahre später wurden einige von ihnen ermordet.“
Die Mädchen sind Schülerinnen der „Wirtschaftlichen Frauenschule auf dem Lande Wolfratshausen“, einer jüdischen Mädchenschule, die von 1926 bis 1938 bestand. Sybille Krafft ist Kuratorin der Ausstellung, die die Geschichte dieser Schule und vor allem die ihrer Schülerinnen und Lehrerinnen erzählt – mit Fotografien, Schriftstücken, erläuternden Texten und mal herzzerreißenden und mal humorvollen Zitaten. Bis 18. März ist sie unter dem Titel „Wir lebten in einer Oase des Friedens“ in der St. Johanniskirche zu sehen.
Initiatorinnen der Ausstellung sind die Frauen der Gruppe „Jüdische Spuren in Wolfratshausen“ des Historischen Vereins. Sie haben die (Mädchen-)Namen von 500 ehemaligen Lehrerinnen und Schülerinnen ermittelt und dann – etwa über Annoncen in jüdischen Zeitungen – tatsächlich Kontakt zu rund 50 Überlebenden bekommen. „Als sich die Erste endlich bei uns gemeldet hat, gab es so etwas wie einen Schneeballeffekt: Eine kannte eine andere und die wiederum eine weitere, und so wissen wir heute von über 100 Schülerinnen, was mit ihnen passiert ist“, erzählt Sybille Krafft. 29 gesicherte Namen stehen für vermutlich weit mehr in der Schoah Ermordete. Ihnen ist in der Ausstellung ein Raum des Gedenkens gewidmet: Ihre Namen sind, in Anlehnung an eine biblische Segensformel, eingewebt in weißes Leinen.
Schweinfurt ist Station 26: Es ist ein Traum der Initiatorinnen, die Ausstellung in jedem Herkunftsort einer Schülerin zu zeigen. Und die kamen aus dem ganzen Deutschen Reich. Auch die Schicksale von drei jungen Frauen aus der Region sind gewürdigt: Ilse Mohrenwitz aus Schweinfurt (sie lebt heute 94-jährig in Israel), Ilse Hirschberger aus Stadtlauringen (sie fuhr schon 1936 nach New York, ihre Eltern wurden ermordet, vermutlich in Sobibor) und Ilse Rosenthal aus Maßbach (sie starb vermutlich im KZ Stutthof). Elisabeth Böhrer hat noch einen weiteren Namen ermittelt: Auch Senta Berlinger, 1922 im Alter von einem Jahr mit ihren Eltern nach Schweinfurt gezogen, war in Wolfratshausen.
Die jüdische Haushaltsschule wurde 1926 vom Jüdischen Frauenbund München gegründet und 1938 in der Reichspogromnacht gewaltsam geschlossen. Ursprünglich sollten die jungen Frauen lernen, einen jüdischen Haushalt nach rituellen Regeln zu führen, und sich auf wirtschaftliche, soziale und pädagogische Berufe vorbereiten. Während der NS-Zeit entwickelte sich die Schule zu einem Zufluchtsort. Junge Mädchen kamen hierher, um sich vor Anfeindung und Ausgrenzung zu schützen oder sich auf ihre Auswanderung vorzubereiten. Der landwirtschaftliche Teil der Ausbildung wurde später für viele Schülerinnen in der Emigration geradezu überlebensnotwendig.
Die Ausstellungsmacherinnen besuchten 13 Überlebende in Israel, den USA, in England und Kanada und zeichneten ihre Erinnerungen mit der Kamera auf. Daraus ist ein höchst bewegender Film entstanden, der auch in der Ausstellung zu sehen sein wird. Ilse Janai, geborene Mohrenwitz, beginnt ihr Statement so: „Ich bin 1917 geboren, also schon eine alte Ziege.“ Die betagten Damen – die jüngste 83, die älteste 99 Jahre alt – erzählen vom Drill in der orthodox geführten Einrichtung, aber auch von einem starken Gefühl der Geborgenheit und der Gemeinschaft. Die meisten Mädchen stammten aus liberalen Elternhäusern und wurden in Wolfratshausen erstmals mit ihrem Judentum konfrontiert.
Leicht war es vermutlich für keine der ehemaligen Schülerinnen, über diesen Teil ihres Lebens zu sprechen. Eine bringt es in erschütternden Worten auf den Punkt: „Ich kann nicht reden, weil es mich zu sehr schmerzt. Ich höre jede Nacht meine Mutter in der Gaskammer schreien. Je älter ich werde, umso deutlicher höre ich sie. Bereits die deutsche Sprache ist für mich wie Folter.“