Dieser Abend wird sein wie ein langes, wunderschönes Akkordeon-Stück. Erst heißt es, tief Luft holen, damit sich der Balg vollsaugen kann mit allem Nötigen für den kräftigen Klang. Dann soll es laut klingen, die Finger sollen tanzen über die Klaviatur, stundenlang, bis wir vom Schunkeln müde geworden sind. Und am Ende dieses Abends soll der Akkordeon-Balg ein letztes Mal seine Luft ausblasen, bis zum letzten Seufzer, auf dass es ganz still werde und die Klänge nur noch ein Echo sind.
Wir holen tief Luft. Sie gefriert uns fast in Rachen und Nase. Unter unseren Winterschuhen knarzt der styroportrockene Schnee, wie wir es in unserem Leben noch nie gehört haben. Die Wanderstöcke ächzen unter den Minusgraden, als wollte das Aluminium gleich zu Bruch gehen.
Die schwarzen Berge im Nordwesten haben einen Hauch Abendrot abbekommen, der Arnsberg übt sich diesbezüglich in Gleichgültigkeit. Der Weg zur Gemündener Hütte vom Rothang aus ist an diesem klirrend kalten Winterabend eine traumwandlerische Angelegenheit durch Stille hindurch. Ein halber Mond genügt, um einen unwiderstehlichen Glanz auf die Tannen in ihrem Reifrock zu malen.
Aus dem Küchenfenster strömt der Dampf in den Abendhimmel, von der Regenrinne hängen dünne Zapfen. Aus den kleinen Fensterchen der Gemündener Hütte, zugestellt mit Kissen und Zierrat, dringen Licht und gedämpfter Gesang.
Die Kirchturmuhr von Bischofsheim, dessen Lichter vom Tal hinaufleuchten, hat noch nicht 18 Uhr geschlagen, da herrscht drinnen in der Hütte schon gute Stimmung. Heinz Fick hat seine Liebste schon in die Arme genommen. Er hätte es gewiss auch getan, wenn seine Frau Hannelore heute mit von der Partie gewesen wäre. Denn die Liebe von Heinz Fick ist das Akkordeonspiel.
Aber Hannelore ist heute leider krank, Heinz' treue Begleiterin zu den Hüttenabenden in der Gemündener. Dafür wurde der Musikant mit dem Schneemobil nach oben gefahren. Jetzt sitzt er auf seinem Platz, genau in der Mitte des kleinen Gastraums. Sein Lächeln ist breit wie der ausgezogene Akkordeon-Balg. Ein wenig wird das Instrument zurecht gerückt, dann greifen die fleischigen Finger von Heinz lustvoll in die schimmernden Tasten.
„Es liegt der Wald im letzten Abendschimmer“, hebt Heinz Fick an, die Runde stimmt in den Gesang ein. „Das alte Försterhaus“ heißt das Lied. Es ist das letzte im Gesangbuch der Gemündener Hütte. 282 Seiten Heimatliebe in Spiralbindung, etwas griechischer Wein oder Chianti für den, der mit dem Klosterbier etwas pausieren will, und dazu eine ganze Reihe Piraten-Lieder, weil man auf 850 Metern Höhe vielleicht seine Rhöner Braut entern will.
Immer mehr stimmen in den Gesang ein. Die beiden Damen aus Bischofsheim, die sich die Stimmung hier so gut wie an keinem ersten Donnerstag im Monat nehmen lassen; der Mann mit dem schlohweißen Bart, der aus der Gersfelder Ecke stammt; oder die Gruppe junger Männer in Theken-Nähe, die heute die Vaterschaft eines Freundes begießen.
„Mit Vorspiel?“ fragt Heinz etwas zweideutig zu Beginn des nächsten Liedes. Der Mann gegenüber nickt lächelnd, die Bischofsheimerinnen kichern, dann zieht Heinz Fick den Akkordeon-Balg wieder weit auseinander. „Rhöner Bu“ heißt das Stück. „I bin a Rhöner Bu, komm von der Rhön. Komm von dem fernen Land, dem Land so wunderschön“, lautet einfach, aber wahr die erste Strophe. Wehmut breitet sich aus, mehr noch als der Dunst der Singenden, die in ihren Skianzughosen schwitzen. Dazwischen wuselt der andere Heinz durch die Gästeschar: eine Käseplatte hier, Bratwürste mit Sauerkraut dort, und überall ein Krüglein Klosterbier.
Heinz Göpfert ist der Seniorchef der Gemündener Hütte und ein wichtiger Stimmungsbringer in dem Haus, das Tochter Verena Göpfert und ihr Lebenspartner Marc Trum seit rund zehn Jahren betreiben. „Die Leute haben immer mal gefragt, ob wir auch einen Tag machen könnten, an dem länger auf ist. Nachdem am Mittwoch die Biker auf dem Kreuzberg sind, haben wir uns den Donnerstag ausgesucht“, erklärt Wirtin Verena Göpfert. Werbung hat es für den Hüttenabend eigentlich nie gebraucht. Die Mund-zu-Mund-Propaganda hat ausgereicht, die Plätze stets zu füllen.
Und mit Heinz Fick haben sie die richtige Stammbesetzung gefunden. „Ich liebe die Musik, das gemeinsame Musizieren. Es hält mich einfach jung“, sagt der Bad Neustädter, der vor seiner Rente bei Preh gearbeitet hat. „Seit drei Jahren mache ich das jetzt hier und die Atmosphäre ist immer etwas besonderes“, sagt Heinz Fick, der nicht nur durch sein Mitwirken beim Neuschter VfL-Trio und bei den „Rhüa Grocke“ eine musikalische Bekanntheit in der Region ist.
Jung hält gewiss auch, dass nicht nur Herrschaften gesetzteren Alters den Weg zur Hütte einschlagen. Birgit Büttner und Gerda Illig aus Bischofsheim zum Beispiel gehören keineswegs dem alten Eisen an. „Am liebsten sind wir im Winter da, es ist noch uriger als im Sommer, wir lernen immer neue Leute kennen, und das gemeinsame Singen macht einfach Freude“, sagen die Damen unisono, bevor sie wieder lauthals lachen über einen Witz am Nachbartisch. Der Jüngste im Bunde an diesem Donnerstagabend ist aber mit seinen gerade einmal fünf Jahren Pascal aus Unterebersbach. „Es ist schön hier“, sagt der Bub, der mit Oma und Opa zum Hüttenabend durfte.
Unterdessen legt Heinz Fick noch einen Zahn zu. Fester greift er in die schimmernden Perlmutt-Tasten des Akkordeons, das immer in der Hütte bereitsteht. Am Nebentisch skandiert jemand die zweite Stimme voller Schmelz und Innigkeit, das Kreuzberglied in einer Spezialversion, einem sehr weltlichen Hymnus von den Wohltaten des Gerstensafts aus der Franziskaner-Brauerei.
Und Helmut Heil singt die Strophen ganz verzückt mit durch seinen schlohweißen Bart. Aus der Nähe von Gersfeld kommt er einmal im Monat über die Schwedenschanze zur Gemündener. „Früher war ich oft in der Enzianhütte, hierher darf ich aber meinen großen Hund mitnehmen“, schmunzelt Heil und zupft die Akkorde. Sie sind heute die beiden einzigen Instrumentalisten. Oft sind weitere Musiker dabei, der Leo Zirkelbach zum Beispiel aus Schönau, der Helmut Handwerker aus Unterelsbach, Sebastian Wappes aus Weisbach oder ein Teil der Waldfensterer Bergmusikanten.
Oft genug lassen die Bergwachtler ihren Dienst in der Hütte ausklingen. Von ihnen und den Alten Herren des TSV Unsleben stammt auch der Liederkanon, der Eingang gefunden hat in das Hütten-Liederbuch. Es trägt den schönen Titel „Heinz' Singstunde“.
Ein bunter, abwechslungsreicher Haufen trifft sich da unterhalb des Klosters Kreuzberg. Selbst aus Aschaffenburg kommen treue Fans angereist, und stets dabei ist auch die Damengruppe aus Modlos, die ausgerechnet an diesem Abend den Bischofsheimer Altweiberfasching beehrt.
In der kleinen Hütten-Küche dampfen die Töpfe und Pfannen, natürlich machen Tabletts mit Stamperln die Runde. Während der Sehnsuchtsklassiker „Sierra Madre“ erklingt und draußen in der Kälte wahrscheinlich die bleistiftharten Tannen zum Erweichen bringt, schimmern auf den Tischen zwischen den Blumen und Luftschlangen die iPhone-Displays, die Zwischenberichte nach irgendwohin versenden. Auch bei einem Hüttenabend geht man mit der digitalen Zeit.
Heinz Fick bekümmert das nicht. Er sitzt genau in der Mitte des Raums, hinter ihm kreuzen sich zwei alte Skier an der Wand, für ein Rhöner Bühnenbild ist das vollauf genug. Im Sommer ist die Kulisse grandioser, dann spielen er und seine Mitstreiter im Freien, den Himmeldunkberg zur seelischen Erhebung im Rücken.
Die Stimmung in der Hütte hat das Euphorische erlangt, einige der Gäste sind aufgestanden und winken mit den Armen, wenn es nicht die losen Hosenträger schon tun. Dann ertönen die ersten Akkorde, die zu diesem Landstrich gehören wie die Golgatha-Szene auf dem Berg der Franken: Das Kreuzberglied.
„Grüß mir die Heimat, grüß mir mein Rhönerland“ klingt es aus 50 Kehlen, zwei- oder dreistimmig. Die Bassknöpfe des Akkordeons verursachen Bauchgrummeln, die Bratwurstsaitlinge wabern beim Erkalten. Alle Menschen hier sind Brüder, Töchter aus dem Rhöner Elysium.
Irgendwann, zu einer späten Stunde, die hier nicht genannt sein soll, fällt der Balg von Heinz Ficks Akkordeon das letzte Mal zusammen, ein letzter Seufzer entfleucht dem Diskant, wie die Akkordeontastatur genannt wird. Draußen, etwas abseits von der Gemündener Hütte, ist es ganz still geworden. Das Licht, das aus den Fenstern dringt, wird mehr und mehr zu einem kleinen Punkt. Die Stirnlampen, die wir uns über den Kopf gezogen haben, machen sich lächerlich. Den Augen bliebe auch so nichts verborgen.
Der halbe Mond lässt eine dunkel silbrige Winterlandschaft glänzen wie festgefrorene weiße Wellen. Wir atmen die Rhöner Luft, die in den Lungen warm geworden ist, tief aus wie einen letzten Seufzer. Er wird zu einer Dampfwolke, die sich im nachtblauen Himmel auflöst.
„Zwei Spuren im Schnee, führ'n herab aus steiler Höh', und uns beide führen sie ins Glück hinein“, die Liedzeile klingt als Erinnerung in den Ohren. Die Spuren, das wissen wir, werden auch zurück ins Glück führen.
Die Hütten in der Bayerischen Rhön
Einzigartig ist die Kultur der Rhöner Hütten. Betrieben werden sie entweder von verschiedenen Rhönklub-Zweigvereinen, die ihre Hütten meist verpachten, oder von Privatleuten.
Die Hütten des Rhönklubs in der Bayerischen Rhön:
Neustädter Haus
Kissinger Hütte
Würzburger Haus
Schweinfurter Haus
Wanderheim Rother Kuppe
Infos zu Öffnungszeiten und Übernachtungsmöglichkeiten unter
www.rhoenklub.de/huetten
Privat betriebene Hütten:
Gemündener Hütte (www.gemuendener-huette.de)
Thüringer Hütte (www.thueringer-huette.com)
Berghaus Rhön (www.berghausrhoen.de)