Dunkelheit, langsam erscheint im Bühnenlicht eine Frau im dunkelvioletten Kleid. Sie sitzt schweigend und merklich angespannt auf einem Stuhl mit dem Rücken zu Publikum, in der Hand ein Brief. Das Publikum wagt kaum zu atmen. So die Eröffnungsszene von Peter Hacks Monodrama mit dem barocken Titel „Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe“ (Uraufführung 1976 in Dresden).
Für die Inszenierung am Freitagabend in der Disharmonie, hat Regisseur Bernd Lemmerich das berühmte Bühnenwerk gekonnt gekürzt. Nur wenige Minuten nach Beginn schimpft Charlotte von Stein (Christina Hadulla) Goethe einen „Grobian und Lumpen“, einen „dahergelaufenen Schöngeist“ der anstatt freundlich „guten Morgen“ zu sagen, den Tag schon mal mit dem derben Spruch „schlag der Donner drein“ beginnt. Sie denunziert ihn im weiteren Verlauf als einen vom Wein trunkenen und aufgedunsenen Phrasendrescher, der mit „schleppender Zunge tiefe Dinge“ zu sagen versucht.
Goethe habe sie als Inspirationsquelle benutzt, habe Kapital aus ihr geschlagen, indem er aus Begehren und Küssen Gedichte schuf und zu Geld machte. Welcher Künstler schlägt kein Kapital aus Menschen und Situationen? Charlotte sieht sich als „ein Gerät, das auf einen Schreibtisch gehört“.
Unser Dichterfürst ein rüpelhafter Grobian, ein literarischer Spekulant? Auf alle Fälle ein Mensch. Immerhin war Goethe da schon ein europäisches Literaturphänomen durch seinen 1774 erschienenen Bestseller „Die Leiden des jungen Werthers“.
Zum Hintergrund: Charlotte von Stein, sieben Jahre jünger als Goethe, war verheiratet mit dem herzoglichen Stallmeister Freiherrn Gottlob Ernst Josias Friedrich von Stein, mit dem sie immerhin sieben Kinder hatte. Goethe und der junge Herzog Karl August kannten sich von Frankfurt. Aus vielen Quellen ist zu erfahren, wie charismatisch der junge Goethe in seiner Sturm-und-Drang-Zeit gewesen sein muss.
Vollbluthofdame Charlotte von Stein nimmt Goethe gegenüber die Funktion einer wohlwollenden Lehrerin ein und wehrt dessen ungestümen Avancen zumindest offiziell ab. Es ist Goethe, der im Januar 1776 damit beginnt, sie mit Briefen, Zetteln und Gedichten anzuschmachten und regelrecht zu bombardieren. 1700 Briefe sind heute erhalten. Niemand weiß sicher, ob es zwischen den beiden je zu Intimitäten gekommen ist: „ …er hätte mich gefressen und wieder ausgespien“, lässt der Bühnenautor Charlotte sagen.
Schon lange träumte Goethe von Italien. 1786 flüchtet der 37-jährige, den Zwängen Weimars überdrüssig, heimlich unter falscher Identität gen Süden. Es wird heute angenommen, dass Herzog Karl August darüber Bescheid wusste. Charlotte fühlt sich durch Goethes plötzliche Abreise verlassen und verletzt, denn sie sind sich echte Vertraute geworden. Böse Zungen munkelten, Charlotte sei der eigentliche Anlass gewesen. Ein Mensch wie Goethe brauchte aber ganz einfach Tapetenwechsel, neue Inspiration – wäre er geblieben, hätte es ihm früher oder später die kreativen Flügel gebrochen.
Hacks Thematik erinnert hier etwas an George Bernard Shaws Stück „Pygmalion“. Zwei Jahre ist Goethe unterwegs. Von Zeit zu Zeit sendet er Briefe aus Italien an Charlotte. Die wenigen Requisiten auf der Bühne sind ebenfalls ganz auf die Korrespondenz von Goethe mit Charlotte konzentriert. Ein zeitgenössisches achteckiges Tischchen, ein Stuhl davor, unweit ein Stehpult mit Briefen, dahinter ein weiterer Stuhl mit Büchern. Christina Hadulla nutzt gekonnt die Requisiten als Stationen für ihre durchweg überzeugende Rolleninterpretation der zunehmend verzweifelten Charlotte. Da sind starke Gefühle im Spiel! Hadulla tritt wütend einen Stuhl gegen die Wand, wirft sich zu Boden, wühlt nach Briefen, liest aus Briefen, postiert sich nahe vor das Publikum – lamentiert, gestikuliert, agiert. Sie füllt den theatralischen Aktionsraum durch ihr monomanisches Kammerspiel völlig aus, man vermisst niemand weiteres (Goethe ist aber in jeder Szene geistig präsent).
Am Ende öffnet Charlotte zögernd einen Brief, in dem sie Liebesbeteuerungen Goethes erwartet; sie wäre nun auch bereit, Goethe zu heiraten. Doch welch eine Enttäuschung! Goethe sendet nur einen belanglosen Wetterbericht von Italien. In der Seele von Charlotte kündigen sich Schauer an…
Man nimmt Christina Hadulla die Rolle spielend ab, denn sie geht ganz auf darin. Dabei ist es schwierig genug, so nahe vor Publikum zu agieren und dabei niemanden direkt anzusehen. Das gliche dem illusionstötenden direkten Blick ins Kameraauge beim Film. Verwechseln darf man das Bühnenwerk aber auf keinen Fall mit der tatsächlichen Faktenlage, einige Zuschauer hielten den Dichter Goethe durch das etwas in die Jahre gekommene Stück gar „vom Sockel gestürzt und entlarvt“.
Unaufdringlich unterteilen und umrahmen die musikalischen Intermezzi von Erna Rauscher (Gesang) und Jutta Müller-Vornehm (Klavier) mit Franz Schubert Kompositionen die Szenen. Ein gelungener Theaterabend.