Sebastian Remelé ist als Oberbürgermeister der Stadt Schweinfurt Gastgeber des Bayerischen Städtetags. Im Interview nimmt er Stellung zum Städtetag-Motto „Mitbestimmung und Transparenz“ und zur wachsenden Diskrepanz zwischen niedrigen Wahlbeteiligungen und Phänomenen wie Internet-Meinungsmache und Piratenpartei.
FRAGE: Das Motto des Städtetags lautet „Bürgerbeteiligung zwischen Marktplatz und Internet“ – klingt wie eine direkte Reaktion auf Piraten und Web 2.0, also die Phänomene, die derzeit die traditionelle Politik aufmischen.
Sebastian Remelé: Man muss da zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit unterscheiden. Ich denke, die Bürgernähe ist in keinem Bereich so ausgeprägt, wie in der Kommunalpolitik. 78 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind mit ihren Bürgermeistern zufrieden. Wobei ich das nicht als Zufriedenheit nur mit der konkreten Amtsführung sehe, sondern einfach als Zufriedenheit in puncto Kontakt und Bürgernähe. Und Schweinfurt mit seinen überschaubaren Dimensionen ermöglicht den direkten Zugriff auf den Oberbürgermeister aber auch auf andere Verantwortliche wie Referenten und Stadträte.
Die Kommunalpolitik ist also nicht so stark unter Druck wie Bundes- und Landesebene?
Remelé: Viele Instrumentarien, die da eingefordert werden, haben wir ja längst in den politischen Alltag übernommen. Gestern hatte ich zum Beispiel eine Bürgersprechstunde. Das ist auf Bundes- und Landesebene fast unmöglich. Ein Abgeordneter ist ja nur eine Figur in einem großen Spiel. Hier kann der Bürger dagegen unmittelbar mit dem Hauptverantwortlichen der Verwaltung unter vier Augen sprechen. Wir haben die Bürgerversammlungen, die übrigens sehr wechselhaft besucht werden. Es gibt über Facebook die Möglichkeit, direkt mit dem Oberbürgermeister Kontakt aufzunehmen. Das nutzen vor allem Jugendliche. Und man kann dem Oberbürgermeister auf einer Vielzahl öffentlicher Anlässe persönlich begegnen.
Wie stark werden diese Möglichkeiten denn genutzt?
Remelé: Es fällt schon auf, dass sie sehr beschränkt genutzt werden. Das gilt auch für Wahlen und Bürgerentscheide. Da haben wir besorgniserregend niedrige Quoten. Bei den OB-Wahlen waren es knappe 50 Prozent. Bei den Bürgerentscheiden haben wir Schwierigkeiten, überhaupt die Quoten zu erreichen. Das ist übrigens in München auch nicht viel besser.
Man kann ja auch bei den Stadtratssitzungen dabei sein, da braucht es keinen Piraten, der alles mit filmt.
Remelé: Das ist ein sehr gutes Beispiel, aber wir haben im Stadtrat neben der Presse durchschnittlich genau einen Zuhörer.
Also immer derselbe?
Remelé: Ja. Er verfolgt seit Jahrzehnten jede öffentliche Sitzung, auch die Ausschüsse. Ansonsten stellt sich Publikum nur ein, wenn ein Eigeninteresse besteht oder wenn es abgeordnet ist, wie etwa eine Schulklasse – und auch das überraschend wenig. Ich versuche gerade, die Schulen stärker für die Arbeit im Rathaus zu interessieren. Ein Versuch ist auch der 18. Juli, der Tag des offenen Rathauses – wobei wir an dieser Bezeichnung noch arbeiten, das Rathaus ist ja nicht nur an diesem Tag offen.
Es gibt also einen gefühlten Mitbestimmungsdrang aber letztlich doch wenig Bereitschaft, mitzugestalten?
Remelé: Richtig, breite Teile der Bevölkerung haben offenbar den Eindruck, von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen zu sein. Andererseits stellen wir fest, dass die vorhandenen Möglichkeiten der Mitwirkung sehr unzureichend bis gar nicht genutzt werden.
Wie reagieren Sie darauf?
Remelé: Wir müssen konkret nachfassen und eruieren, wo sagt der Bürger zu Recht, dass ihm Information oder Transparenz fehlt. Dann stellt sich die Frage: Hätte man die liefern können, oder hätte man sie abrufen können. Da klafft meiner Meinung nach eine gewisse Lücke. Ich räume aber durchaus ein, dass viele Vorgänge etwa in Brüssel nicht sehr transparent sind. Aber auch ich hätte gar nicht die Zeit, die Informationen, die dazu möglicherweise zugänglich wären, aufzunehmen.
Alles wird komplexer, auch auf kommunaler Ebene. Ist es überhaupt noch möglich für den Bürger, mündig teilzuhaben, oder muss er einfach akzeptieren, dass er den Politikern seine Daseinsvorsorge delegieren und ihnen vertrauen muss?
Remelé: Die Demokratie fordert den mündigen und aktiven Bürger, aber der kommt schnell an seine zeitlichen und intellektuellen Grenzen, wenn es darum geht, etwa ein Bauvorhaben in all seinen Verästelungen zu verstehen. Das Leben verrechtlicht sich immer stärker, vieles ist selbst für Juristen immer schwerer zu verstehen, ich nenne nur das Stichwort Steuerrecht. Deswegen ist es von Haus aus sinnvoll, gewisse Entscheidungsprozesse zu delegieren und über die Wahl Repräsentanten anzuvertrauen, die (vermeintlich) die Thematik noch überschauen. Das tun wir übrigens in unserem Alltag dauernd. Wenn sie krank sind, gehen Sie zum Arzt; Ihre Steuererklärung vertrauen Sie dem Steuerberater an, nur bei der Politik besteht offenbar ein großes Grundmisstrauen.
Ein Problem ist sicherlich auch mangelndes Wissen über die demokratischen Spielregeln. Bei der OB-Wahl gab es Menschen, die mit dem Begriff Stichwahl nichts anfangen konnten.
Remelé: Dabei ist die OB-Wahl noch leicht zu überschauen. Viel komplizierter ist die Wahl der Stadt- und Gemeinderäte. Wobei die gerade in Bayern dem Wähler Steuerungsmöglichkeiten einräumt wie in kaum einem anderen Land. Kumulieren und Panaschieren ist ein bisschen eine bayerische Spezialität. Hier wird genau das umgesetzt, was Bürger fordern. Nämlich pointiert eingreifen zu können. Der Wähler kann unabhängig von Parteien und Listen einzelne Kandidaten favorisieren, was es aber gleichzeitig wieder kompliziert macht. Da muss der Bürger bereit sein, sich zu informieren und sich Zeit nehmen, um dieses Instrument sinnvoll zu nutzen. Wenn Sie es einfacher machen wollen, nehmen Sie dem Wähler Mitsprachemöglichkeiten.
Sehen Sie da nicht die Gefahr einer Schere – einerseits die wenigen Mündigen, die die niedrigen Wahlbeteiligungen stellen, andererseits die Vielen, die nicht willens oder fähig sind, die Mechanismen zu durchschauen oder zu erlernen, die aber trotzdem mitgenommen werden wollen?
Remelé: Ja, das ist eine Entwicklung, die ich mit Sorge betrachte. Demokratie setzt nun mal den mündigen und gebildeten Bürger voraus. Deswegen tun sich archaische Staatsformen, wie Afghanistan, schwer, in wenigen Jahrzehnten ein halbwegs demokratisches System aufzubauen. Selbst wir Deutsche sind, historisch betrachtet, in puncto Demokratie noch Anfänger.
Halten Sie mehr plebiszitäre Elemente für sinnvoll?
Remelé: Unsere Bayerische Verfassung gewährt hier bereits ein großes Maß an unmittelbarer Entscheidungsbefugnis in Form von Bürgerbegehren und -entscheiden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass angesichts der immer größeren Komplexität ein Mehr funktionieren soll. Im Grunde gibt es keine Alternative zur repräsentativen Demokratie. Die plebiszitäre Demokratie kann in Einzelfällen jedoch eine sinnvolle Ergänzung sein.
Beim Bürgerentscheid ist aber zum Schluss sehr oft eine kleine Menge Stimmen ausschlaggebend.
Remelé: Genau. Die Frage, ob das noch das Attribut plebiszitär verdient, ist durchaus zu stellen. In München haben 130 000 Stimmen den Ausschlag gegen den Flughafenausbau gegeben und das bei 1,3 Millionen Einwohnern und einem Projekt, das landesweite Bedeutung hat.
Wie kommen Bevölkerungsgruppen wie Migranten und ältere Menschen in dieser komplizierter werdenden Welt zurecht?
Remelé: Bei den Migranten mit Wahlrecht stellen wir fest, dass die Wahlbeteiligung außerordentlich niedrig ist – auch und gerade bei der Wahl des Ausländerbeirats, jetzt Integrationsbeirat, wo ja bewusst diese Bewohner sich beteiligen sollen. Bei den Älteren sehe ich diese Gefahr weniger. Die sind mit die aufgeklärteste Bürgergruppe. Da finden Sie auch am ehesten mal eine Zeitung vor. Und die nutzen immer stärker das Netz. Das ist hier weniger Ausschlusskriterium, sondern eine Teilnahmemöglichkeit, gerade wenn die körperliche Mobilität nachlässt. Und ich erlebe nicht selten bei Jubilaren, die wir ja erst ab dem 80. Geburtstag besuchen, dass da ein Computer steht. Da ist Wissen und Interesse da, mit diesen modernen Medien umzugehen.
Wie erklären Sie sich allgemein den Unwillen, an politischen Prozessen mitzuwirken?
Remelé: Ob das Desinteresse, Unwillen ist oder Überforderung, kann ich nicht beurteilen. Ob das Nichtwählen möglicherweise auch eine Form von Kundgabe – etwa von Zufriedenheit – ist, müsste man mal untersuchen. Aber da muss bereits in der Schule und sogar im Kindergarten angesetzt werden. Was auch passiert. Man kann schon bei Kindern ein Interesse für Demokratie wachrufen.
Das Internet eignet sich sehr gut als Maschine für Stimmungsmache. In Schwäbisch Gmünd haben 10 000 User die Benennung eines Tunnels nach Bud Spencer gefordert. So etwas kann ja auch mal auf Sie zukommen.
Remelé: Da werden wohl sehr spontan Stimmungen wiedergegeben, die durch einen Schlüsselreiz ausgelöst worden sind. Das ist auch das Gefährliche an Plattformen wie Twitter: Dass man aus der Hüfte irgendwelche Ad-hoc-Meinungen kundtut, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten. Im Gegensatz eben zu einer gefestigten, wohlüberlegten Meinung.
Das heißt, man muss auch mal was aushalten?
Remelé: Ja. Ich habe an die Politik und auch an mich den Anspruch, den Bürger anzuhören und ernst zu nehmen. Aber nicht nur der Vollstrecker einer spontanen Stimmung zu sein, sondern durchaus auch mal eine Distanz herzustellen und zu prüfen, ist das jetzt klug, durchdacht und nachhaltig? Denn Politik muss auch bereit sein, Vorgaben zu machen, von denen sie glaubt, dass sie richtig sind. Wenn sie diesen Anspruch abgibt, dann verliert sie ihre Daseinsberechtigung. Natürlich müssen diese Vorgaben erklärt und begründet werden, heute mehr als jemals zuvor. Wenn das dem Wähler dann nicht passt, dann kann er den Politiker abwählen. Aber wir machen die Erfahrung, dass die wenigen Politiker, die Tacheles reden, sich durchaus einer gewissen Beliebtheit erfreuen.
Sehr beliebt sind im Moment allerdings auch die Piraten.
Remelé: Das ist eine Stimmungspartei, die zudem zu wichtigen Politikbereichen keine Aussagen treffen will; der man Vertrauen schenkt, obwohl sie nicht bereit ist, ihren eigenen Mandatsträgern so weit zu vertrauen, dass sie mal eine Meinung äußern, ohne sie in den kleinsten basisdemokratischen Einheiten hinterfragt zu haben. Ich bin nicht sicher, wie es mit den Piraten weitergeht. Entweder, sie bilden Mechanismen heraus, wie sie andere Parteien auch haben, was ich für unausweichlich halte, oder sie bleiben beim bewusst Unkonventionellen, dann laufen sie aber Gefahr, dass sie nicht handlungsfähig werden.
Unterscheiden sich die Einlassungen in der Bürgersprechstunde von mit denen in Facebook?
Remelé: In beiden Fällen kommen die Bürger mit persönlichen Anliegen. In Facebook sind sie allerdings oft ergänzt mit Anregungen und Ideen, vergleichbar etwa mit Leserbriefen. Da kommen dann Anregungen zu Festen und Veranstaltungen. Ich habe übrigens den Eindruck, dass sich das Interesse allmählich von den Sprechstunden ins Netz verlagert. Da wird auch mal getadelt oder Lob gespendet – es findet die ganze Bandbreite menschlicher Meinungsäußerungen statt.
Wie bewältigen Sie das Facebook-Aufkommen?
Remelé: Ich schaue mehrfach wöchentlich rein und es gibt eine Mitarbeiterin im OB-Büro, die mich unterstützt und als Weiche fungiert. Konkrete Anfragen gehen direkt an die zuständigen Referate. Das landet dann wieder auf meinem Schreibtisch und wird von mir freigegeben oder noch mal überarbeitet.
Was erwarten Sie sich vom Städtetag?
Remelé: Ich erwarte, dass er dem Bürger die Möglichkeiten der Teilhabe, die es schon gibt, stärker vermittelt, vorstellt und erklärt. •