Es klingt wie ein Märchen aus 1001 Nacht: Hat eine afghanische Familie "nur" Töchter, darf wenigstens ein Mädchen vollwertig als Sohn aufwachsen, bis zur Pubertät und dem heiratsfähigen Alter. Die Tradition in einem Land strenger Geschlechtertrennung gibt es wirklich. Sie soll die "Schande" für den Hausherrn mildern, hat aber auch praktische Gründe: Die Schwestern haben so den nötigen "männlichen" Begleiter. Womöglich geht der Brauch des "Bacha Posh" auf die Nöte eines Herrschers zurück, der um 1900 nicht wusste, von wem er seinen Harem bewachen lassen sollte. Männer wären ebenso wenig schicklich gewesen wie Frauen. Also behalf man(n) sich mit verkleideten Hofdamen.
"Über die Berge und über das Meer" nennt sich der neueste Roman des Münsteraner Jugendbuchautors Dirk Reinhardt, den er im Celtis-Gymnasium vorgestellt hat: Auf Einladung von Christian Back als Fachbetreuer für den Deutschunterricht. Der Journalist und Historiker war schon früher zur Lesung in Schweinfurt. Bekannt ist Reinhardt etwa für die Geschichte der "Edelweißpiraten", jugendliche Widerstandskämpfer während der NS-Diktatur. "Train Kids" nennt sich ein weiteres Werk über Latino-Kinder, die auf Güterzügen durch Mexiko in die USA "trampen".
Buch Nummer 6 ist thematisch der Nachfolger. Bei einer Train Kids-Lesung sei er von einem jungen Afghanen angesprochen worden, der Vergleichbares erlebt hat, erzählt Reinhardt den Achtklässlern: "Von da an passierte es immer wieder". Die Geschichte rund um das Schicksal zweier Flüchtlinge vom Hindukusch ist inspiriert von wahren Erlebnissen und Personen. Teenagerin Soraya wächst als siebte Tochter in einem Bergdorf auf, gemäß dem Brauch in Jungenkleidern. Als Samir hat sie einige Freiheiten, darf unter anderem eine Schule besuchen. Mit 14 Jahren wäre es höchste Zeit für die "Rückverwandlung": Bei den Taliban, die ihre Region heimsuchen, verlaufen Gender-Debatten eher einseitig.
Reinhardt zeigt Bilder aus dem Bürgerkriegsland. In einer eindringlichen Szene schildert der Autor, wie die "verlorene Tochter" denunziert und von einem Talib bedroht wird. Bei seiner Wiederkehr soll sie als Frau "hinter dem Vorhang" leben, für immer, oder sie wird verschwinden.
Ihr Freund ist Tarek, ein Nomadenjunge, der als Hirte die Folgen von Krieg und Klimawandel zu spüren bekommt. Schon das Minenfeld, in das er und seine Schafe sich verirren, ist "etwas Schlimmeres als Wölfe".
Der Stil von Dirk Reinhardt, einem Fan von Charles Dickens, Mark Twain oder Astrid Lindgren, wirkt fast schon dokumentarisch. Trotz Zeitkritik schwingt aber immer wieder Faszination für eine archaisch-fremdartige Kultur mit. Im Glauben an den beschützenden Zaubervogel "Simurgh" findet Tarek mit seinem Hund aus dem Minenfeld heraus. Er wird Richtung Deutschland geschickt, um von dort aus die verarmte Familie zu unterstützen. Ähnlich geht es Soraya, die vor den Islamisten in die Türkei flieht. Beide werden von Schleusern durch den Mittleren Osten gebracht, auf parallelen, gefährlichen Routen, die sich manchmal annähern. In Istanbul schuftet die Afghanin in einer Textilfabrik, um das Geld für die Überfahrt nach Deutschland aufzutreiben, und lernt dabei eine junge Syrerin kennen, die ihre Eltern im Krieg verloren hat.
Die Lesung endet am wild wogenden Mittelmeer. Wie die grenzüberschreitende "Coming of Age"-Geschichte ausgeht, wird nicht verraten. Eine lebhafte Debatte mit den Schülern schließt sich an, etwa über die Recherche unter Flüchtlingen, die ein halbes Jahr gedauert hat. Reinhardt verrät, um was es im nächsten Buch gehen soll: Jugendliche Hacker, in der Art von WikiLeaks - auch das ein Thema nahe an der harten Realität.