Mit der Sammlung Joseph Hierling kamen 2009 nicht nur rund 540 Werke des Expressiven Realismus als Dauerleihgabe in die Kunsthalle – also ein Schatz, aus dem sich in den kommenden Jahren schöpfen lässt – quasi im Doppelpack kam eine Aufgabe mit ins Haus, die der Leiter der Museen und Galerien, Erich Schneider, als spannende Herausforderung sieht. „Wir wollen teilnehmen an der Diskussion über die Bewertung des Expressiven Realismus und seiner Bedeutung für die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.“
Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die erste Wechselausstellung aus den Beständen der Sammlung, die unter dem Titel „Menschenbilder“ steht, von einer umfangreichen Publikation begleitet wird, für die nicht weniger als sechs Autoren Essays verfasst haben – obwohl zur Eröffnung bereits ein großer Katalog erschienen ist. Für Erich Schneider sind diese Beiträge Teil der Diskussion, die durchaus kontrovers und ergebnisoffen geführt werden dürfe. Und die den erst viel später geprägten und schwer zu definierenden Begriff des „Expressiven Realismus“ unbedingt mit einschließt.
Die Kunsthistorikerin Ingrid von der Dollen beispielsweise, eine der Autorinnen, schreibt, der Expressive Realismus könne als ein Sammelbecken individueller malerischer Äußerungen bezeichnet werden, der fließende Übergänge zu anderen, eindeutiger zu definierenden Stilformen aufweise. Grundlegend für diese Maler sei die Freiheit gegenüber einem bestimmten Zeitstil. In Bezug auf die Menschendarstellung sieht sie freilich Gemeinsamkeiten. So finde sich unter den zahlreichen Selbstporträts der Sammlung kein einziges Rollenporträt. Von der Dollen nennt in diesem Zusammenhang als Beispiel Corinth, der sich als Fahnenträger, in Rüstung oder als Bacchant dargestellt habe. Auf derartige Attribute hätten die Maler des Expressiven Realismus verzichtet, es sei ihnen nicht mehr um die Pose vor Publikum, sondern um eine Zwiesprache mit sich selbst gegangen.
Erich Schneider geht der Verunsicherung der Kunstschaffenden bei der Darstellung des Menschenbildes um die Mitte des 20. Jahrhunderts auf den Grund. Als Künstler habe man sich offenbar zwischen zwei Feuern befunden. Auf der einen Seite das weite Feld der „absoluten“ beziehungsweise ungegenständlichen Kunst, der man entweder völlig verfallen sei oder die man genauso entschieden ablehnte, und auf der anderen Seite die durch die nationalsozialistische Diktatur missbrauchten Formen figürlich-gegenständlicher Darstellungsweisen. „Immer wieder auf neue, ungewohnte Weise der Freiheit des Menschen ein Gesicht geben“, definierte Georg Meistermann 1951 die sich damals stellende Aufgabe.
Die Ausstellung „Menschenbilder“ gliedert sich in mehrere Unterthemen, auf die im Katalog jeweils ein Kurztext hinführt. Unter dem Titel „Selbst“ zeigen die Kuratoren Erich Schneider und Andrea Brandl Selbstporträts von Künstlern von Fritz Gartz (1921) bis Thomas Niederreuther (1963). Allen gemeinsam ist der sehr ernste, teils skeptische Blick, der durch eine eher düstere Farbgebung noch unterstrichen wird. „Adolf Büger konfrontiert den Betrachter ... durch den weit in die Stirn hereinrutschenden Verband mit seiner persönlichen Unpässlichkeit“, schreibt Andrea Brandl.
Unter „Vis ? vis“ haben die Kuratoren Porträts ausgewählt, die Brandl „psychologisierende Bildnisse“ nennt, die die Stimmung und das innere Wesen der Porträtierten zu reflektieren suchen. Auffallend hier ist die sehr ähnliche Körperhaltung der dargestellten Frauen. Bedrückend Franz Franks Blick auf den schwerkranken Maler Gulde (1953). Die sehr ernste Grundstimmung zeigt sich auch beim Thema „Kinder“. Keines sieht man fröhlich lachen oder spielen. Bei Paul Kuhfuss hat ein kleines Mädchen im blauen Kleid zwar etwas in der Hand, das aussieht wie ein Reifen, aber es spielt nicht, sondern steht starr, ein alter Mann nähert sich. Titel des Gemäldes von 1938: „Unhold“. Sehr fraglich ist, ob man es heute noch wagen würde, ein Mädchen als Akt so abzubilden wie es Ottilie Kaspar 1935 getan hat.
Womit wir beim Thema „Akt“ wären. Zu sehen sind einerseits Frauen in intimer Atmosphäre, „Bei der Toilette“ (Carl Otto Müller 1951), im Boudoir oder auf dem Sofa liegend und zwei Gemälde, die sich – obwohl mehr als fünf Jahrzehnte auseinanderliegend – mit dem Frei-Sein in der Natur auseinandersetzen. Wie stark die Industrialisierung das gesellschaftliche Leben beeinflusste, zeigen die zwischen 1921 und 1967 entstandenen Werke, die unter dem Thema „Mensch und Welt“ gezeigt werden. Der Flucht der Menschen aus dem Alltag in die „Scheinwelten“ von Zirkus, Karneval oder Theater ist ein weiterer Abschnitt gewidmet und schließlich zeigen die Kuratoren, wie Mythologie und Religion als Metaphern für die Darstellung gesellschaftlicher Fehlentwicklungen eingesetzt wurden.
Die Ausstellung „Menschenbilder“ ist im Untergeschoss gleich neben der Dauerpräsentation zu sehen, die bekanntlich nur einen Teil der von Hierling gesammelten Werke zeigen kann. Von Anfang an war geplant, sich regelmäßig aus der Schatzkiste zu bedienen und Wechselausstellungen zu bestimmten Themen zu erarbeiten. Drei Gemälde sind Leihgaben des Museums für Kunst und Kulturgeschichte der Marburger Universität, Leihgaben aus dem Nachlass des 2009 verstorbenen Rainer Zimmermann, dessen Lebenswerk die Erforschung des Expressiven Realismus war.
„Menschenbilder“, Gemälde aus der
Sammlung Joseph Hierling, Kunsthalle Schweinfurt, 26. März bis 25. Juli. Eröffnung Do., 25. März, 19 Uhr.