Ein neues Opfer von Misshandlungen im ehemaligen Kinderheim „Marienpflege“ aus den 60er Jahren hat sich gemeldet: Es bestätigt die von Bernd Seyfert in dieser Zeitung erhobenen Vorwürfe gegen die inzwischen verstorbene Nonne E. und erhebt neue. Damit verstärkt sich der Eindruck: Prügelstrafen erfolgten zu diesem Zeitpunkt in der „Marienpflege“ mit System und Brutalität.
Helga Bulheller, die heute im Landkreis Haßberge wohnt, lebte von 1962 bis 1968 in der „Marienpflege“. Damals leiteten die „Armen Schulschwestern von Unserer Lieben Frau“ die Einrichtung, die 1970 an die Caritas überging; Nonnen des Ordens arbeiteten bis 2005 in der heutigen Jugendhilfeeinrichtung „Maria Schutz“ mit. Bulheller bestätigt die Prügelvorwürfe Seyferts gegen Schwester E., die die etwa 30-köpfige Kindergruppe leitete, in der auch Bulheller – wenn auch früher als Seyfert – war. Er hatte von systematischen Prügelattacken E.'s berichtet.
Bulheller nennt ein Beispiel: Auch für schlechte Schulnoten gab es Schläge mit dem Rohrstock und exakt definierter Methodik – für eine 4 vier Hiebe, für eine 5 fünf, für eine 6 ein halbes Dutzend. „Wenn es Zeugnisse gab, sind wir Schlange gestanden.“ Wie bereits Seyfert differenziert auch Helga Bulheller in ihrer Erinnerung.
Es gab auch andere
Die Nonnen Julia und Hatwiga sind ihr in angenehmer Erinnerung geblieben. Letztere hat von E. gelegentlich die Gruppenleitung übernommen: „Das war eine Riesenwohltat für uns.“ Nicht alle Nonnen sind demnach handgreiflich geworden, aber niemand hat der Prügel-Praxis Einhalt geboten, zumal auch Lehrer und Pfarrer Ohrfeigen verteilten: „Wir haben es nicht anders gekannt.“
Wie bei Bernd Seyfert hat sich auch bei Helga Bulheller die Qual anderer Kinder mehr in die Seele eingegraben als die eigenen Schmerzen. Helga Bulheller war mit ihrer Schwester im Heim. Die hatte Probleme, machte nachts ins Bett. Typisch für diese Zeit, wurde nicht nach den Ursachen geforscht. Für die nassen Bettlaken gab es den Rohrstock. Die Prügel verteilte demnach Schwester F., verantwortlich für die Wäsche im Heim.
In kindlicher Naivität versuchte Bulhellers Schwester, das nächtliche Malheur zu vertuschen. Das gelang natürlich nicht. Fast täglich, so erinnert sich Bulheller, habe sie mit ansehen müssen, wie ihre Schwester geschlagen wurde. Sie habe oft Blasen- und Nierenentzündungen bekommen; eine Niere sei der Schwester schließlich entnommen worden. Helga Bulheller bringt die permanenten Züchtigungen von F. damit in direktem Zusammenhang.
Ein weiteres Beispiel Bulhellers belegt die zwanghaften Moralvorstellungen jener Zeit. Am Rande eines Sportfestes an der Schule habe sie mit einer Freundin im Gras herumgetollt und -geblödelt. Der Oberin sei dies zu Ohren gekommen. „Ich wurde ausgefragt und dann zum Frauenarzt geschleift“, erzählt die heute 56-Jährige. Dort sollte geklärt werden, ob es zu sexuellen Kontakten gekommen ist. „Das muss man sich vorstellen: Ich war zehn Jahre alt und wusste noch gar nicht, dass es Männlein und Weiblein gibt.“
Und alles kam wieder hoch
„Es ist viel passiert“ bei ihrem fünfjährigen Aufenthalt in der „Marienpflege“, sagt Helga Bulheller. Mit der ersten Berichterstattung dieser Zeitung über die Vorwürfe vor knapp vier Wochen sei dies wieder in ihr hoch gekommen: „Ich bin in Tränen ausgebrochen.“ Sie habe sich selbst zu Wort gemeldet, um mit ihrem Namen für die Wahrheit einzustehen. Und sie möchte, dass Bernd Seyfert, der zuerst an die Öffentlichkeit gegangen ist, „nicht als Lügner dasteht.“
Bereits die erste Berichterstattung über die Misshandlungsvorwürfe hat im Internet-Portal dieser Zeitung, mainpost.de, zu einer regen und differenzierten Diskussion geführt. Unter anderem meldeten sich zwei ehemalige Bewohnerinnen zu Wort, die sich positiv über ihren Aufenthalt äußern. Allerdings beziehen sich die Einträge auf eine deutlich spätere Zeit, als Seyfert und Bulheller im Heim lebten. Eine Autorin plädiert dafür, nicht alle Heime in einen Topf zu werfen. Sie habe „Maria Schutz“ viel zu verdanken. Die Wertschätzung der Arbeit zeige sich auch im alljährlichen „Ehemaligen-Treffen“, schreibt die andere Leserin. Das nächste ist am kommenden Samstag.
Der Orden der „Armen Schulschwestern“ mit Sitz in München sei derzeit dabei, weitere Erkenntnisse über das Heim „Marienpflege“ zu sammeln. Das sagte die Missbrauchsbeauftragte Elisabeth Aleiter auf Anfrage dieser Zeitung. Besonders ist sie an Aussagen ehemaliger Bewohner interessiert, die sich über die Vorwürfe gegen die Nonnen und das Heim ihr gegenüber äußern. Danach wolle sich die Ordensleitung öffentlich dazu äußern: „Da wird auf alle Fälle was kommen.“