In Schweinfurt sind dies inzwischen etwa 100 Mädchen und Jungen zwischen zwölf und 17 Jahren, die volltrunken in das Leopoldina-Krankenhaus eingeliefert werden. Hier müssen sie auf der Intensivstation behandelt und beobachtet werden. Diese Zusammenbrüche haben sich seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt.
Während bisher die Jugendlichen am folgenden Morgen von den meist fassungslosen Eltern abgeholt wurden, kommt jetzt vor der Entlassung ein Sozialpädagoge des Schweinfurter HALT-Teams ins Krankenhaus, um mit den Jugendlichen und ihren Eltern zu sprechen: Wie konnte es zu diesem Absturz kommen? Was können, was müssen wir tun, dass sich diese lebensgefährliche Situation auf keinen Fall wiederholt?
HALT (Hart am Limit) ist ein Alkohol-Präventionsprojekt mit dem Schwerpunkt auf Rauschtrinken bei Kindern und Jugendlichen. Es verfolgt zwei Ziele: Exzessivem Alkoholkonsum dieser Altersgruppe soll früh und präventiv begegnet werden. Und: Der verantwortungsvolle Umgang mit Alkohol soll auf kommunaler Ebene (Jugendschutz, Sensibilisierung von Eltern, Lehrern, Verkäufern, der Öffentlichkeit) gefördert und verstärkt werden.
In Schweinfurt ist das Projekt HALT im August 2008 mit einer vertraglich festgelegten Zusammenarbeit zwischen dem Leopoldina-Krankenhaus und dem Stadtjugendamt gestartet. In der Praxis: Zwischen der Klinik für Kinder und Jugendliche (Chefarzt Dr. Johannes Herrmann) und der Suchtprävention der Stadt (Sozialpädagoge Helmuth Backhaus).
Im Büro der Suchtprävention im alten Stadtbahnhof beantworten beide Verantwortlichen unsere Fragen, berichten von ihren Erfahrungen. „Die Kinder und Jugendlichen kommen in einem schlimmen Zustand bei uns an“, berichtet Herrmann. Zuvor haben meist Saufkumpane, Passanten, Polizei oder Eltern den Rettungsdienst verständigt. Haben auf die Hilflosen aufmerksam gemacht, von denen die Mädchen jetzt leicht Opfer sexueller Übergriffe werden können.
Herrmann: Die Jugendlichen sind meist volltrunken, kaum ansprechbar, haben manchmal erbrochen, auch schon mal eingenässt und eingekotet. Alle mit einer beginnenden Bewusstlosigkeit. Eine Unterkühlung ist besonders gefährlich, weil durch den Alkohol die Schutzreflexe nachlassen und die Betroffenen leicht am Erbrochenen ersticken können.
Auf der Intensivstation gilt es, die Vitalfunktionen (Atmung, Kreislauf) der jungen Patienten mit Alkoholintoxikation (Vergiftung) zu erhalten, sie werden mit Kontrollinstrumenten verkabelt. Als Infusionszusatz wird eine Glukoselösung verabreicht: Flüssigkeitsverlust wird ausgeglichen, das strapazierte Gehirn mit Zucker versorgt, und man hat gleich einen sicheren Zugang für eine Notfall-Medikation bei eventuellen Krampfanfällen. Hatten sich die Betrunkenen beschmutzt, werden sie mit Windeln versorgt. Der Urin wird auf Drogen untersucht.
„So bin ich nachts gegen drei wach geworden“, erzählt der 15-jährige Andreas (Name geändert), den Backhaus für unser Gespräch gewinnen konnte. „Mir war furchtbar übel, ich hatte rasende Kopfschmerzen, war überall verkabelt. Und ich dachte: Was für eine Scheißsituation, so hier im Krankenhaus aufzuwachen.“ Dass Andreas betont, „eine Windel hatte ich aber nicht“, zeigt, wie peinlich auch so schon diese Nacht ist.
Bei dem morgendlichen Gespräch zwischen Andreas und dem Mitarbeiter des HALT-Teams ergab sich dann folgendes Bild: Der Junge hatte mit drei Freunden abends im Freien gefeiert – „wir wollten Spaß haben“. Zwei Flaschen Schnaps machten die Runde, nach weniger als einer Stunde, gegen 20 Uhr, wusste „Einsteiger“ Andreas von nichts mehr. Sein Kumpel verständigte die Mutter, die Eltern brachten Andreas ins Krankenhaus.
Backhaus: Generell geht es schon beim ersten Gespräch im Krankenhaus darum, Kinder und Jugendliche mit riskantem Alkoholkonsum frühzeitig zur Reflexion ihres Verhaltens zu bewegen, ihre Risikokompetenz zu fördern. Ein weiterer Schritt ist dann der zweitägige sogenannte Risiko-Check, zu dem das Einverständnis der Eltern benötigt wird.
Unkritische Einstellung
Dazu trafen sich im November zehn Jugendliche – Betroffene und einige ihrer Freunde – im Stadtbahnhof, um sich bei einem von einem Pädagogen geführten Gruppengespräch über ihren Umgang mit Alkohol, Gründe für ihr exzessives Trinken, über Gefahren für sich und andere klarzuwerden. An Gründen wurden genannt: Trinken „aus Spaß“, „aus Langeweile“, um zu „beweisen, wie viel man verträgt“, um Probleme zu verdrängen. Oft stecken Naivität und Unwissenheit dahinter.
Dieses Nachdenken über einen zu hohen und gefährlichen Alkoholkonsum sei dringend notwendig, gerade bei der unkritischen positiven Einstellung der Gesellschaft zum Alkohol, betont Backhaus. Mit zehn Liter reinem Alkohol pro Kopf der Bevölkerung im Jahr liegt Deutschland in der oberen Gruppe. Vorbild: Erwachsene?
Hatten sich die Jugendlichen bei der Gesprächsrunde schon etwas kennengelernt, wuchs das Gruppengefühl beim Ausflug – der erlebnispädagogische Baustein – in den Hochseilgarten Üchtelhausen am folgenden Samstag. Hier mussten unter Anleitung von zwei Trainern Aufgaben im Team bewältigt werden. Die Jungen und Mädchen machten dabei neue Erfahrungen: Wo liegen meine Grenzen – maximaler Spaß bei maximaler Sicherheit – Kick ohne Alkohol – dem anderen vertrauen, ihn berühren, anfassen – Halt geben – Halt erfahren.
Andreas: „War ein toller Tag in Üchtelhausen. Aber das andere, das passiert mir bestimmt nie wieder“.
Kontakt
HALT – Hart am Limit vor Ort: Kommunale Jugendarbeit, Stadt Schweinfurt, Markt 1, 97421 Schweinfurt, Tel. (0 97 21) 20 11 75, Fax 20 11 76. E-Mail: koja.stadt@schweinfurt.de