Wer denkt sich sowas eigentlich aus? An zwei Bändern hängen und seinen Körper mit purer Kraft in die Höhe schrauben. Oder seinen Körper so verbiegen, dass keiner mehr weiß, wo oben und unten, wo vorne und hinten ist. Oder auf Rollschuhen herumwirbeln und dabei entweder unzählige Ringe jonglieren oder eine Partnerin per Rotation zum Schweben bringen.
Varietékünstler denken sich sowas (und noch viel mehr) aus. Sie sprengen die Grenzen körperlicher Leistungsfähigkeit, lassen die Schwerkraft richtig alt aussehen und bringen ihr Publikum zum Staunen und zum Lachen. Bis 12. Mai tun sie das beim 4. Internationalen Varietéfestival im großen Zelt auf der Sennfelder Freizeitanlage. Am Donnerstag war mit dem fast dreistündigen Programm „Traumreisen“ vor ausverkauftem Haus und vor einer riesigen Projektionswand Premiere. Diese Projektionswand illustrierte die Auftritte mit landestypischen Eindrücken.
Denn „Traumreisen“, inszeniert von Festivalchef Dirk Denzer, ist tatsächlich eine Varieté-Weltreise, die Artisten kommen aus China, der Mongolei, aus Spanien, den USA, Russland, Argentinien, der Ukraine, Italien, Ägypten oder Bayern.
Reisebegleiter ist Herr Niels, ein Comedian, der Pantomime, Wortwitz und eine gehörige Portion Nonsens zu einem höchst faszinierenden Mix verbindet (siehe Interview unten). Natürlich lehnen sich Pantomimen seit Jahrhunderten an imaginäre Tresen oder streichen imaginäre Wände. Bei Herrn Niels aber überlegt man nicht, wie er das macht, sondern wie in aller Welt es gelungen ist, diesen Tresen, diese Wand tatsächlich unsichtbar zu machen.
Nachdem eine Flasche plötzlich ein kurioses Eigenleben entwickelt hat, tritt Herr Niels ans Mikrofon und fragt: „Wollt ihr das nochmal sehen? In Zeitlupe?“ Das Publikum will, und so zeigt er es in Zeitlupe, und man kommt wieder nicht dahinter, wie um alles in der Welt er das macht.
Neben eher folkloristischen (und ein wenig langatmigen) Auftritten wie dem Gouchotanz von Orfeo und Julio Gordillo aus Argentinien oder dem Tanz der Derwische aus Ägypten bildet klassische Artistik die Hauptroute der „Traumreisen“. Die atemberaubende Diabolo-Nummer des Chinesischen Nationalcircus oder die verblüffende Kontorsions-Choreografie des mongolischen Duos Angels. Das Trapez-Duo Rose aus Chicago, das scheinbar völlig mühelos einen Liebestanz in der Vertikalen aufführt. Und die Rollschuh-Acts von TJ-Wheels (mit Jonglage) oder Trio Giourintano, das sich auf kleinstem Podest die Fliehkraft untertan macht.
Doch am interessantesten sind die Grenzgänger. Das Duo Flash aus Russland etwa, das verblüffende Akrobatik mit Komik verbindet. Ein großer und ein kleiner Mann, die permanent aneinander und ineinander geraten, von einander abprallen, übereinander purzeln und in nächsten Moment wieder dastehen, unversehrt wie elastische Zeichentrickfiguren.
Oder Peter Spielbauer, der laut Videowand direkt aus Absurdistan angereist ist. Und ein mysteriöses Gestell mitgebracht hat, an dem blecherne Teller hängen, die Spielbauer nach keinem erkennbaren System in Unordnung zu bringen beginnt. Das Gestell allerdings zwingt ihm eine unbeabsichtigte Unordnung auf, und auch wenn bei der Premiere offenbar nicht alles glattläuft mit dem mysteriösen Gestell, so hat doch die lupenreine Sinnfreiheit von Spielbauers selbstvergessenem Tun etwas nahezu hypnotisch Komisches.
Der genaue Gegenpol dazu ist dann wohl das völlig durchgeknallte Trio Olé: drei offenkundig exzellente (Flamenco-)Gitarristen, die allerdings bei jedem neuen Anlauf nach wenigen Takten Flamenco unweigerlich abschweifen. In Richtung Hardrock, Chart-Schnulze oder ganz einfach pure Anarchie. Da fliegen Gitarren, Tischtennisbälle und noch einiges mehr. Das Publikum lacht Tränen und ist dankbar, bei Oleg Chudans beeindruckender Strapaten-Nummer zum Schluss wieder ein wenig runterzukommen.