Das Szenenfoto hängt immer noch im Flur hinter der Theaterkasse. Es lässt erahnen, was vor 41 Jahren nebenan auf der Bühne abging: junge Männer warfen Steine in einen Kinderwagen. Sie steinigten ein Baby und pinkelten in den Wagen. Das Stück „Gerettet“ des englischen Dramatikers Edward Bond war ein Skandal, nicht nur bei seiner Premiere in London 1965, sondern auch bei der Aufführung in Schweinfurt 1969. Bei dieser Szene verließen etliche ältere Besucher das Haus, während Jugendliche ihnen hinterher riefen „Wiedersehen Nerz“.
Günther Fuhrmann, der das Staatsschauspiel Köln mit dem umstrittenen Stück damals engagiert hatte, erinnert sich so genau, als ob es gestern passiert wäre: In der ersten Szene saß ein Mann beim Fernsehen, während die Tochter nebenan auf dem Sofa mit einem Mann zugange war. Als sie ihn fragte „wie heißt du eigentlich?“, stand der erste Zuschauer auf und ging. Es waren heiße Zeiten in dem erst drei Jahre vorher eröffneten Theater der Stadt Schweinfurt. „Irgendwo muss es noch einen ganzen Stapel Briefe von Zuschauern geben“, sagt Fuhrmann. Es gab heftigste Diskussionen pro und contra. Die einen klopften ihm auf die Schulter, andere pöbelten ihn an. Aber letztendlich hätten die Leute die Sache unter sich ausgemacht.
Fuhrmann brachte Stücke wie „Gerettet“ oder Franz Xaver Kroetz' „Stigma“ nicht um der bloßen Provokation oder des Skandals willen, sondern weil er zeigen wollte, dass das Theater das Gewissen einer Zeit ist, dass es Ausschnitte der Wirklichkeit zeigen muss. Gewalttätige jugendliche Gangs, wie sie Bond beschrieben hatte, waren eben Teil der Realität. Bei der Spurensuche nach der Kulturszene in den 1960er Jahren in Schweinfurt ist der 86-jährige ehemalige Theaterchef der wichtigste Ansprechpartner, nicht zuletzt wegen seines hervorragenden Gedächtnisses.
Das Theater war in damals der wichtigste Kulturort in der Stadt. Das Amerika-Haus, das der junge Fuhrmann von 1951 bis 56 geleitet hatte, war längst wieder geschlossen, die Museumslandschaft entwickelte sich erst später, in den 1960er Jahren war das heimatgeschichtliche Museum im Alten Gymnasium das einzige. In der Volkshochschule gab es etliche Vorträge, „aber alles war viel bescheidener“, sagt Fuhrmann. Verantwortlich für die Kulturarbeit war bis Mitte der 1960er Jahre der Kulturverein Schweinfurt, den drei Männer 1947 gegründet hatten, mit dem Ziel, das kulturelle Leben nach dem Krieg wieder in Gang zu bringen. Aber das ist eine andere Geschichte, die Fuhrmann freilich auch erzählen könnte.
Theater wurde ab Mitte der 1950er Jahre in der neu erbauten Stadthalle gespielt. Erster Intendant war Erich Kronen. Günther Fuhrmann war sein Assistent. Die beiden entwickelten das Konzept des Gastspielhauses, das später als Schweinfurter Modell bundesweit bekannt und kopiert wurde. „Wir sind uns vorgekommen wie Missionare“, sagt Fuhrmann, die Menschen lechzten nach Kultur und nahmen dankbar an, was sie beiden nach Schweinfurt brachten. Der Schwerpunkt lag auf dem Schauspiel, denn für große Musikinszenierungen fehlten Platz und technische Ausstattung in der Stadthalle.
Außerdem war die Sicht auf die Bühne schlecht, die Stühle unbequem. So fiel die Idee, ein Theater zu bauen, auf fruchtbaren Boden. Es muss Anfang der 1960er gewesen sein, als Georg Schäfer, der im Fichtels Garten ein Museum nach einem Entwurf von Mies van der Rohe bauen wollte, anregte, gleich daneben ein Theater zu errichten. Beide Pläne zerschlugen sich, aber die Idee mit dem Theater hatte sich festgesetzt – sowohl bei der Bevölkerung als auch bei Oberbürgermeister Georg Wichtermann. Die Entscheidung im Stadtrat für den Bau fiel fast einstimmig, sagt Fuhrmann. Es habe nur zwei Gegenstimmen gegeben, eine von der CSU, eine von der SPD.
Georg Schäfer empfahl den Architekten Erich Schelling, der bereits das FAG-Verwaltungsgebäude gebaut hatte. Nach einer Bauzeit von dreieinhalb Jahren wurde das Theater der Stadt Schweinfurt am 1. Dezember 1966 mit „Figaro“ eröffnet. Fuhrmann, der 1962 die Leitung des Theaters übernommen hatte, blieb bei seiner Linie, aktuelles europäisches und angloamerikanisches Theater zu zeigen. Und endlich konnte er große Opern und Konzerte mit bekannten Namen wie Baden Powell, Friedrich Gulda und Dietrich Fischer-Dieskau bringen, um nur einige zu nennen. Das Schweinfurter Publikum war begeistert, das Haus war voll und blieb es – auch nach den umstrittenen Aufführungen.
Und außerdem? Was machten die jungen Leute in den 1960ern Günther Fuhrmann zuckt mit den Schultern. Natürlich gab es die Vereinsszene in den Lokalen, er erinnert sich auch, dass es einen Tanzschuppen gegeben hat, aber sonst sei wenig los gewesen. „Das Zentrum war das Theater“, sagt er. Auch für ihn persönlich. Trotz verlockender Angebote aus Köln und der Schweiz ist Günther Fuhrmann in Schweinfurt geblieben – obwohl er 1951, als er hierher versetzt worden war, um das Amerika-Haus zu managen, nur ein paar Jahre bleiben wollte.