Es gibt einen einzigen Brief im Stadtarchiv, den ein gewisser Johann Adam von Seuffert, Jurist zu Würzburg, an Friedrich Rückert geschrieben hat. Niemand konnte ahnen, wie eng die Freundschaft dieser beiden Männer, die sich seit Studienzeiten kannten, wirklich war – bis zum April dieses Jahres, als sich die Ururenkelin Ute Seuffert bei Rudolf Kreutner, dem Geschäftsführer der Rückert-Gesellschaft und hervorragenden Rückert-Forscher meldete. Sie habe im Nachlass ihrer Großeltern, in einem riesigen Karton voller Papiere, Briefe gefunden, die der junge Rückert zwischen 1812 und 1819 an ihren Ururgroßvater geschrieben hat. Sie sind für die Forschung so interessant und wichtig, dass Stadt und Rückert-Gesellschaft sie nun erworben haben.
Bei der Übergabe im Rathaus gab ein begeisterter Rudolf Kreutner sehr anschaulich einen ersten Eindruck von den Briefen, deren Kopien er seit April intensiv studiert hat. Rückert, 1788 in Schweinfurt geboren, hat ab 1805 in Würzburg Jura studiert und dort Johann Adam von Seuffert (1794-1857) kennengelernt, der auch Gedichte schrieb. Selbst Rudolf Kreutner, der seit 1987 über den Dichter und Orientalisten forscht, wusste nichts von der engen Brieffreundschaft. In den ersten, noch recht förmlichen Schreiben siezt Rückert seinen „lieben Freund, den Herrn Studiosus“, ab Herbst 1814 geht er zum unprätentiösen „Du“ über.
„Wir lernen hier den jungen Rückert sehr ungeschminkt kennen“, sagt Kreutner. Jener war wohl ein sehr ehrlicher, fränkisch-derber Mann mit einem etwas sprunghaften Charakter. In einem Brief preist er eigene Werke fast größenwahnsinnig, in einem anderen gibt er sich am Boden zerstört. Auch Seufferts Gedichte kritisiert er teilweise deutlich. Im September 1813 beispielsweise schreibt Rückert, er hoffe, Seuffert werde noch lernen, gute Sonette zu machen, wenn er sich nicht reue, ein paar hundert zu zerstören, wie er, Rückert, es auch getan habe – bis er so „vortrefflich unzerstörbare hervorbringen konnte“, wie die, die er seinem Freund nun übersenden wolle.
In diesem Brief ist auch von den „Geharnischten Sonetten“ die Rede, jenen bekannten Kriegsgedichten gegen die französische Besatzung unter Napoleon. Als Ute Seuffert an diese Stelle im Brief kam, wusste sie plötzlich, wer ihrem Ururgroßvater geschrieben hatte. Vorher war das nicht klar, denn einige Briefe sind nur mit „Der Deinige Fr. R“, unterzeichnet, andere mit „Ihr R“, nur wenige mit „Ihr Fr. Rückert mp“. Das „mp“ steht für manu propria, zu deutsch eigenhändig, wie Kreutner alle Nichtlateiner in einer seiner Anmerkungen aufklärt.
Ute Seuffert jedenfalls wusste erst ab diesem Moment, dass der geheimnisvolle Brieffreund Friedrich Rückert war, denn die „Geharnischten Sonette“ waren ihr ein Begriff. Und weil sie ab Ende der 1960er-Jahre für einige Zeit in Schweinfurt gelebt hat – ihr Mann Gideon von Redwitz war Direktor einer Schweinfurter Bank – kannte sie auch die Rückert-Gesellschaft. So kamen die 16 Briefe jetzt ins Stadtarchiv. Ute Seuffert lebt heute in Oberaudorf im Inntal. Sie konnte Rückerts exakte Handschrift bis auf wenige Abkürzungen gut entziffern und hat die Texte selbst transkribiert, so dass sich Rudolf Kreutner sofort an die Arbeit machen konnte und dabei auf interessante Entdeckungen stieß.
Gehen wir zurück ins Jahr 1809. Friedrich Rückert zieht mit seiner Familie nach Ebern. Die ersten Briefe stammen aus dieser Zeit. Der junge Dichter ist finanziell ganz von seinem Vater abhängig. Er lebt im Elternhaus und widmet sich seinen Studien und dem Schreiben. 1812 verliebt er sich in die Gastwirtstochter Marielies Geuß und widmet der Angebeteten den Gedichtzyklus „Amaryllis, ein Sommer auf dem Lande“, den er seinem Freund Johann Adam von Seuffert mit der Bitte um einen „bündigen Urtheilsspruch“ schickt. Immer wieder bittet er ihn auch, Literatur zu senden und ihn über das politische Geschehen auf dem Laufenden zu halten. In Ebern scheint er abgeschnitten von der Welt und schmachtet nach Neuigkeiten und Büchern.
Rückert scheint nur eines zu wollen: zu forschen und zu schreiben. „Ich kann nicht lehren, ich muss noch so viel lernen“, sagt er. So arbeitet er ab 1815 nur kurz als Redakteur in Stuttgart und kommt nach Aufenthalten in Italien und Wien 1819 wieder nach Ebern und Coburg, wo er sich als Privatgelehrter vor allem den orientalischen Sprachen widmet. Aus den Briefen an Seuffert hat Rudolf Kreutner erfahren, dass sich Rückert aber nicht erst seit seiner Begegnung mit dem Wiener Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall 1818 intensiv mit der hebräischen, aramäischen und der persischen Sprache befasst hat, sondern schon Jahre vorher.
Rückert erarbeitete sich 44 Sprachen selbst, ohne Lehrmaterial, nur mit Hilfe von Büchern. Durchschnittlich brauchte er drei Monate für eine Sprache. Rudolf Kreutner sagt, seine Übersetzungen des Koran wären bis heute unübertroffen. Rückert konnte sich auf besondere Weise in die Originalsprache hineinfühlen und hat den Koran als einziger so übersetzt wie er geschrieben wurde, nämlich als poetisches, höchst literarisches Werk.