Dorothee Wittmann-Klemm hat bewusst ein Fragezeichen hinter den Titel ihres vhs-Vortrags gesetzt: „Essen wie Gott in Frankreich?“ Thema ist die Haute Cuisine, also die hohe Kunst des Kochens, oder vielmehr das, was der Nichtfranzose sich drunter vorstellt. Die Referentin macht dem Häuflein kulinarisch interessierter Zuhörer schnell klar: Üppiges, kunstvoll zubereitetes Essen war durch die Jahrtausende (auch) in Frankreich immer Privileg einer sehr, sehr kleinen Oberschicht.
Obwohl Essen schon bei den Galliern ein beliebter Zeitvertreib war. Wittmann-Klemm hat eine antike römische Quelle ausgegraben, die das klar belegt: „Fressen ist ihre zweite Natur“. Dabei war der Tisch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nur selten reich gedeckt. „Immer wieder gab es Missernten oder gar komplette Ernteausfälle“, berichtet Dorothee Wittmann-Klemm, „und anders als heute gab es keine Nahrungsmittel-Importe.“ Fiel die Ernte aus, gab es nichts zu essen. Gar nichts. Aus dem Jahr 1033 ist überliefert, dass die Menschen im Burgund in ihrer Verzweiflung Baumwurzeln und Gras aßen.
Apropos Tisch: Im frühen Mittelalter kannte man noch keinen Esstisch. Man legte einfach ein Brett auf zwei Böcke. Daher bis heute der Ausdruck „dresser la table“ für das Decken des Tischs – den Tisch aufbauen. Auch das Wort „copain“ – Freund, Kumpel – stammt aus der Frühzeit kulinarischer Gepflogenheiten: Es gab keine Teller, das Essen wurde entweder in einem Topf für alle aufgetragen oder auf einem Stück Brot – „pain“ –, das sich anschließend zwei Esser teilten, „copains“ also.
Die Gabel kam erst ein paar Jahrhunderte später: Sie wurde im 16. Jahrhundert aus Italien mitgebracht – von den Medici, wie eine Teilnehmerin weiß. Lange war auch das Frühstück unbekannt. Die Menschen gingen frühmorgens aufs Feld und aßen erst etwas, wenn der Hunger zu sehr drückte – das „déjeuner“. Das „petit déjeuner“, das Frühstück also, ist wohl deshalb bis heute verglichen mit deutschen oder gar englischen Morgenmahlzeiten so karg.
Viel und lange gegessen hat über die Jahrhunderte nur der Hochadel. Essen als Statussymbol: Für möglichst illustre Gäste tischte man möglichst lange Speisefolgen auf. Einen Gang zu verweigern, wäre unhöflich gewesen, also entstand die Sitte, von jeder Speise nur einen Happen zu nehmen. Der Rest ging zurück. Ein Brauch, der schließlich als – längst sinnloser – „Anstandshappen“ sogar Eingang in vermeintlich vornehme deutsche Benimmregeln fand.
Erst Henri IV., der von 1589 bis zu seiner Ermordung 1610 regierte und bis heute als „le bon roi“ – der gute König – verehrt wird, unternahm erste Versuche, die allgemeine Ernährungslage zu verbessern. Er förderte Handwerk und Handel und prägte den legendären Spruch, zumindest am Sonntag solle jeder ein Huhn im Topf haben – „une poule au pot“. Mit Ludwig XIV. und seinen Nachfolgern nahm das zeremonielle, in höchstem Maße verschwenderische Essen vollends groteske Züge an. Gleichwohl: Die Haute Cuisine hat hier ihren Ursprung. Trotz aller Revolutionen und Umbrüche blieb sie das Maß aller Dinge, so dass das Großbürgertum, das im Zuge der Industrialisierung entstand, alles tat, um der einstigen Oberschicht nachzueifern. Es war die Zeit, als jeder Hof in Europa sich mit französischen Köchen schmückte.
Während Arbeiterfamilien sich weiterhin bestenfalls von Gemüsesuppe ernährten, fuhren die reichen Familien allabendlich schwindelerregende Speisenfolgen auf, wie eine Gegenüberstellung aus dem Jahr 1859 zeigt. Mit prompten Folgen: Schlaganfall, Gicht, Diabetes und Kurzatmigkeit waren unter den Wohlgenährten weit verbreitet. Dicksein galt als Zeichen von Macht und Erfolg, und wer es trotz aller Fresserei nicht schaffte, dick zu werden, für den gab es künstliche Bäuche zum Umschnallen.
Nach der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg mit der brutalen Rationierung von Lebensmitteln feierte die Haute Cuisine ihre Auferstehung, diesmal auch für breitere Bevölkerungsschichten und diesmal weltweit. Und provozierte bald auch eine Gegenbewegung: die Nouvelle Cuisine, die vor allem drei Ansprüche hat – einfach, frisch und wenig. „Teuer kann's trotzdem sein“, sagt Dorothee Wittmann-Klemm.
Natürlich ist auch Frankreich nicht verschont geblieben von Fast Food und kulinarischer Globalisierung. „Wie geht es also weiter“, fragt die Referentin. „Irgendwie sind wir alle daran beteiligt.“